Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
verschwunden. Freilich war vieles von dem, was sie unter alter österreichischer Kultur verstand, wie Haydn oder die Habsburger, einst nur eine lästige Lernaufgabe gewesen, während mitten dazwischen sich leben zu wissen ihr jetzt als ein bezaubernder Reiz erschien, der ebenso heroisch ist wie das hochsommerliche Summen der Bienen; aber mit der Zeit wurde das nicht nur eintönig, sondern auch anstrengend und sogar hoffnungslos. Es ging Diotima mit ihren berühmten Gästen nicht anders wie dem Grafen Leinsdorf mit seinen Bankverbindungen; man mochte noch so sehr wünschen, sie in Einheit mit der Seele zu bringen, es gelang nicht. Von Automobilen und Röntgenstrahlen kann man ja sprechen, das löst noch Gefühle aus, aber was sollte man mit allen unzähligen anderen Erfindungen und Entdeckungen, die heute jeder Tag hervorbringt, anderes anfangen, als ganz im allgemeinen die menschliche Erfindungsgabe zu bewundern, was auf die Dauer recht schleppend wirkt! Se. Erlaucht kam gelegentlich und sprach mit einem Politiker oder ließ sich einen neuen Gast vorstellen, er hatte es leicht, von vertiefter Bildung zu schwärmen; wenn man aber so eingehend mit ihr zu tun hatte wie Diotima, zeigte es sich, daß nicht die Tiefe, sondern ihre Breite das Unüberwindliche war. Sogar die dem Menschen unmittelbar nahegehenden Fragen wie die edle Einfachheit Griechenlands oder der Sinn der Propheten lösten sich, wenn man mit Kennern sprach, in eine unüberblickbare Vielfältigkeit von Zweifeln und Möglichkeiten auf. Diotima machte die Erfahrung, daß sich auch die berühmten Gäste an ihren Abenden immer paarweise unterhielten, weil ein Mensch schon damals höchstens noch mit einem zweiten Menschen sachlich und vernünftig sprechen konnte, und sie konnte es eigentlich mit keinem. Damit hatte Diotima aber an sich das bekannte Leiden des zeitgenössischen Menschen entdeckt, das man Zivilisation nennt. Es ist ein hinderlicher Zustand, voll von Seife, drahtlosen Wellen, der anmaßenden Zeichensprache mathematischer und chemischer Formeln, Nationalökonomie, experimenteller Forschung und der Unfähigkeit zu einem einfachen, aber gehobenen Beisammensein der Menschen. Und auch das Verhältnis des ihr selbst innewohnenden Geistesadels zum gesellschaftlichen Adel, das Diotima große Vorsicht auferlegte und trotz aller Erfolge manche Enttäuschung eintrug, erschien ihr mit der Zeit immer mehr so beschaffen zu sein, wie es kein Kultur-, sondern nur ein Zivilisationszeitalter kennzeichnet.
Zivilisation war demnach alles, was ihr Geist nicht beherrschen konnte. Und darum war es seit langem und vor allem auch ihr Mann.
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Leiden einer verheirateten Seele
SIE LAS in ihrem Leiden viel und entdeckte, daß ihr etwas verlorengegangen war, von dessen Besitz sie vordem nicht viel gewußt hatte: eine Seele.
Was ist das? – Es ist negativ leicht bestimmt: es ist eben das, was sich verkriecht, wenn man von algebraischen Reihen hört.
Aber positiv? Es scheint, daß es sich da allen Bemühungen, die es fassen wollen, erfolgreich entzieht. Es mag sein, daß einstmals etwas Ursprüngliches in Diotima gewesen war, eine ahnungsvolle Empfindsamkeit, damals eingerollt in das dünngebürstete Kleid ihrer Korrektheit, was sie jetzt Seele nannte und in der gebatikten Metaphysik Maeterlincks wiederfand, in Novalis, vor allem aber in der namenlosen Welle von Dünnromantik und Gottessehnsucht, die das Maschinenzeitalter als Äußerung des geistigen und künstlerischen Protestes gegen sich selbst eine Weile lang ausgespritzt hat. Es mag auch sein, daß dieses Ursprüngliche in Diotima als ein Etwas von Stille, Zärtlichkeit, Andacht und Güte genauer zu bestimmen war, das nie einen rechten Weg gefunden hatte und beim Bleigießen, welches das Schicksal mit uns veranstaltet, in die komische Form ihres Idealismus geraten war. Vielleicht war es Phantasie; vielleicht eine Ahnung von der instinktiven vegetativen Arbeit, die täglich unter der Decke des Leibes vor sich geht, über der der seelenvolle Ausdruck einer schönen Frau uns anblickt; vielleicht kamen bloß unbezeichenbare Stunden, wo sie sich weit und warm fühlte, die Empfindungen beseelter zu sein schienen als gewöhnlich, wo Ehrgeiz und Wille schwiegen, eine leise Lebensberauschung und Lebensfülle sie ergriff, die Gedanken sich weit weg von der Oberfläche nach der Tiefe richteten, selbst wenn sie nur dem Geringsten galten, und die Weltereignisse fern lagen wie Lärm vor einem Garten. Diotima meinte dann
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