Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
Rhythmus ehelicher Berührung rein physiologisch in ihr zu einer Gewohnheit entwickelt, die ihre Bahnung für sich besaß und sich ohne Verbindung mit den höheren Teilen ihres Wesens wie der Hunger eines Knechts meldete, dessen Mahlzeiten spärlich, aber kräftig sind. Mit der Zeit, als kleine Härchen aus Diotimas Oberlippe brachen und in ihr mädchenhaftes Wesen sich die männliche Selbständigkeit der gereiften weiblichen Person mischte, kam ihr das als Schrecken zu Bewußtsein. Sie liebte ihren Gatten, aber es mengte sich ein wachsendes Maß Abscheu darein, ja eine fürchterliche Beleidigung der Seele, die man schließlich nur den Empfindungen vergleichen konnte, die der in seine großen Unternehmungen vertiefte Archimedes gehabt haben würde, wenn ihn der fremde Soldat nicht erschlagen, sondern ihm ein sexuelles Ansinnen gestellt hätte. Und da ihr Gatte das weder merkte, noch ebenso darüber gedacht haben würde, ihr Körper aber sie gegen ihren Willen schließlich doch jedesmal an ihn verriet, fühlte sie sich einer Zwangsherrschaft unterworfen; es war wohl eine, die nicht für untugendhaft gilt, aber ihr Ablauf war genau so quälend, wie sie sich das Auftreten eines Tics oder die Unentrinnbarkeit des Lasters vorstellte. Nun wäre Diotima dadurch vielleicht nur ein wenig schwermütig und noch mehr ideal geworden, aber das fiel unglücklicherweise gerade in die Zeit, wo auch ihr Salon begann, ihr seelische Schwierigkeiten zu bereiten. Sektionschef Tuzzi förderte sehr natürlich die geistigen Bestrebungen seiner Frau, da er bald erkannt hatte, welcher Vorteil für seine eigene Stellung sich mit ihnen verband, aber er hatte niemals Teil an ihnen genommen, und man kann wohl auch sagen, er nahm sie nicht ernst; denn ernst nahm dieser erfahrene Mann nur die Macht, die Pflicht, hohe Abkunft und in einigem Abstand davon die Vernunft. Er warnte sogar Diotima wiederholt davor, in ihre schöngeistigen Regierungsgeschäfte zu viel Ehrgeiz zu setzen, denn wenn Kultur auch sozusagen das Salz in der Speise des Lebens sei, so liebe feine Gesellschaft doch nicht eine allzu gesalzene Küche; er sagte das ganz ohne Ironie, denn es war seine Überzeugung, aber Diotima fühlte sich gering geschätzt. Sie fühlte beständig ein Lächeln in der Schwebe, mit dem ihr Gatte ihre idealen Bestrebungen begleitete; und ob er sich zu Hause befand oder nicht, und ob dieses Lächeln – falls er wirklich lächelte, was keineswegs immer sicher war in besonderer Weise ihr galt oder nur zu dem Gesichtsausdruck eines Mannes gehörte, der von Berufswegen jederzeit überlegen aussehen muß, es wurde ihr mit der Zeit immer unerträglicher, ohne daß sie sich von dem infamen Schein von Berechtigung zu befreien vermochte, den es sich anmaßte. Diotima gab zuweilen einer materialistischen Geschichtsperiode die Schuld daran, die aus der Welt ein böses, zweckloses Spiel gemacht hat, zwischen dessen Atheismus, Sozialismus und Positivismus ein seelenvoller Mensch nicht die Freiheit findet, sich zu seinem wahren Wesen zu erheben; aber auch das nützte nicht oft.
So waren die Verhältnisse im Hause Tuzzi beschaffen, als die große patriotische Aktion die Ereignisse beschleunigte. Seit Graf Leinsdorf, um den Adel nicht zu exponieren, deren Mittelpunkt in das Haus seiner Freundin verlegt hatte, waltete dort eine unausgesprochene Verantwortung, denn Diotima war entschlossen, jetzt oder nie ihrem Gatten zu beweisen, daß ihr Salon kein Spielzeug sei. Se. Erlaucht hatte ihr anvertraut, daß die große patriotische Aktion eine krönende Idee brauche, und es war ihr brennender Ehrgeiz, sie zu finden. Die Vorstellung, mit den Mitteln eines ganzen Reichs und vor den aufmerksamen Augen der Welt etwas verwirklichen zu müssen, was einer der größten Kulturinhalte sein sollte, oder bescheidener eingeschränkt, vielleicht etwas, das die österreichische Kultur in ihrem innersten Wesen zeigen sollte, – diese Vorstellung wirkte auf Diotima, als ob die Türe ihres Salons aufgesprungen wäre und an die Schwelle schlüge wie eine Fortsetzung seines Fußbodens das unendliche Meer. – Es ließ sich nicht leugnen, daß das erste, was sie dabei empfand, eine unermeßliche, augenblicklich sich öffnende Leere war.
Erste Eindrücke haben so oft etwas Richtiges an sich! Diotima war sicher, daß etwas Unvergleichliches geschehen werde, und rief ihre vielen Ideale auf; sie mobilisierte das Pathos ihrer Geschichtsstunden als kleines Mädchen, wo sie mit Reichen und
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