1841 - Der Engeljäger
Julian hatte den Bischof noch nie so erregt gesehen. Er meinte es wirklich ernst. Und er vertraute dem alten Mann. Er war auch gern bei ihm gewesen, doch nun musste sich das ändern. Das sah er ein. Der Bischof hätte ihn nie belogen.
»Wann soll ich denn weg?«
»Heute. Am besten sofort.«
»Aber ich kann …«
»Keine Ausrede mehr. Deine Sachen habe ich schon gepackt. Du kannst sofort fliehen.«
»Ja, ja, und wo soll ich hin?«
»Nach London.«
Julians Mund klappte auf. »Das ist nicht eben nah, wenn ich …«
»Nimm den Roller. Damit ist es kein Problem. In deiner Tasche findest du wichtige Dinge und natürlich Geld. Es ist nicht viel, aber es wird reichen, dessen bin ich mir sicher.«
»Es wird gleich dunkel«, sagte Julian.
»Ich weiß, ich weiß. Dann musst du unterwegs übernachten. Wichtig ist, dass du von hier wegkommst. Man sucht dich.«
»Das habe ich begriffen. Aber wer ist dieser John Sinclair? Den Namen habe ich noch nie gehört.«
»Er ist jemand, der Verständnis für dich haben wird. Dem du dein Geheimnis anvertrauen kannst. Er wird es begreifen.«
»Und weiter?«
»Er wird dich auch schützen.« Der Bischof nickte. »Davon bin ich überzeugt.«
»Weiß er Bescheid?«
»Ich habe ihn angerufen und vorbereitet.«
»Was hat er gesagt?«
Der alte Bischof lächelte. »Er ist einverstanden. Du wirst bei ihm nicht auf taube Ohren treffen.«
»Ja, das ist gut. Und was ist, wenn man mich findet?«
»Dann wird man dich töten.«
Julian erschrak. »Warum denn?«
»Weil du etwas Besonderes bist, und das weißt du selbst. Du kannst Dinge, die andere Menschen nicht können, weil sie nur Menschen sind, aber das bist du nicht.«
»Ich weiß«, sagte Julian mit leiser Stimme. »Aber was wird John Sinclair dazu sagen?«
»Das Richtige.«
»Ist er auch ein Mann der Kirche?«
»Nein, das ist er nicht. Aber er steht voll und ganz auf unserer Seite.« Der Bischof holte erst mal Luft. »Er hat schon viel erreicht in seinem Leben. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Böse zu bekämpfen, und man nennt ihn auch den Geisterjäger. Fahr du jetzt nach London. Wo du ihn findest, das habe ich dir aufgeschrieben. Die Infos befinden sich in der Tasche.«
»Weiß er denn, dass ich kommen werde?«
»Ich sagte doch schon, dass ich mit ihm telefoniert habe. Er will dich treffen. Ich denke, dass du dir den Treffpunkt sogar aussuchen kannst. Zum einen ist es die Dienststelle bei Scotland Yard, zum anderen kann es auch seine Wohnung sein. Das wird sich ergeben.«
Der junge Mann nickte. Aber er hatte Tränen in den Augen. Er wollte nicht weg. Es war ihm bei dem Bischof gut gegangen, sie hatten sich super verstanden, obwohl altersmäßig Jahrzehnte zwischen ihnen lagen.
»Alles klar, mein Sohn?«
Julian nickte, aber er stellte noch eine Frage. »Gibt es wirklich keinen anderen Ausweg?«
»Nein.«
»Dann ist es gut.«
Der Bischof wollte ihn so nicht gehen lassen. Eine Hoffnung musste er ihm noch mit auf den Weg geben. Er schaffte ein Lächeln und sagte dann: »Es ist ja nicht für immer. Wenn alles vorbei ist, werden wir wieder in Kontakt treten.«
»Ehrlich?«
»Ja, mein Junge.«
Jetzt lächelte auch Julian. Er drehte sich um, weil der Bischof seine Tränen nicht sehen sollte.
»Du musst dann jetzt fahren.«
»Ja, das werde ich.«
Wenig später hatte er das Haus verlassen und war in die Wärme des Spätsommertags getreten. Es tat ihm gut, sie zu spüren, denn innerlich hatte er gefröstelt.
Als er die schmale Treppe vor der Tür hinter sich gelassen hatte, fiel sein Blick auf die Kirche, die nicht weit entfernt stand. Sie war kein großer Bau, beileibe nicht, aber sie war von einem großen Grundstück umgeben, auf dem auch das Haus stand, das dem Bischof von der Diözese zur Verfügung gestellt worden war, um da seinen Lebensabend zu verbringen. Hin und wieder sprang er auch für den einen oder anderen erkrankten Kollegen ein und las eine Messe.
Er war Julian gefolgt und blieb auf der obersten Stufe stehen. Sein Blick glitt in die Umgebung, über der die letzten Strahlen der untergehenden Sonne einen goldenen Schimmer hinterließen.
Der Tag würde nicht mehr lange bleiben. Deshalb sollte Julian den hellen Rest noch ausnutzen.
Er war im Moment nicht zu sehen, tauchte aber dann wieder auf und schob den Roller neben sich her.
Am Fuß der Treppe blieb er stehen und schaute die Stufen hoch auf den Bischof.
Der kam die Treppe hinab und blieb vor seinem Schützling stehen. Einen letzten Gruß
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