Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
Vom Netzwerk:
Lachen von Gerken im Moor und die Ohrfeigen auf seine Mariefragen durch den Kopf... Wieso waren es gerade diese Sätze, diese Szenen und kleinen Dinge aus den Kindertagen, die man sein Leben lang wie in Vitrinen aufgehoben mit sich nahm? Vielleicht gab es diese Vitrinen überhaupt nur für die Kindertage; vielleicht war irgendwann genug darin, wenn man älter wurde, sodass sich die Fenster schlossen. Paul hörte durch das Vitrinenglas immer noch Sätze seiner Mutter, seines Vaters, seines Großvaters: Er hörte das Lied, das am Abend gesungen wurde, und sah den Mond hinterm Weyerberg und den Nebel über dem Teufelsmoor, wenn er im Schlafanzug ruhig geworden war. Er sah durch das Glas die Bilder von der Schneekönigin und dem Jungen, den sie in ihre kalten Eissäle entführte, wo sie ihn täglich küsste und sein Herz beinahe erfror. Frieren. Eis werden. Weinen. Auftauen. Fließen. In die Welt gehen.
    Nullkück schaufelte und schaufelte.
    Paul lief auf eines der Ketten- und Raupenfahrzeuge zu. Er drehte den Schlüssel um und drückte auf alle Knöpfe und Pedalen, die er finden konnte. Dann fuhr er auf die alte Scheune zu.
    Die ganzen Geschichten, dachte er. In der Scheune verwandeln sich die Formen des Großvaters in Menschen, dort werden sie in der Dunkelheit lebendig, stört sie nicht! Stört sie nicht, bis sie sich vollendet haben! ... Eine Form, die in der Verwandlung ist, kann oft zu Dingen führen, vor denen wir uns in Acht nehmen müssen! ... Stockdunkle Seelenscheune!
    Paul fuhr immer schneller.
    Johan und Hinrich mit ihrem Schnaps, dachte er. Dieses furchtbare Gebräu, das dort immer noch in Kisten gärte. Und das Marie in sich hineingeschüttet hatte, bis ein Nullkück dabei herausgekommen war, der nun im Garten wie ein Irrer nach seiner Mutter grub! Seelenscheune, Gefängnis, Angstschuppen! Lügenschuppen! Lügenwelt, LÜGEN-WELT!
    Er drückte das Pedal durch. Er sah die Scheune immer näher kommen. Er stellte sich vor, in seine Kindheitsvitrinen hineinzuschlagen, bis das Glas splitterte und die Seelen, der Nebel und die alten, frühen und unschuldig geglaubten Sätze sich blutrot färbten.
    Er brach mit der Raupe durch die Tür. Fuhr hinten wieder raus mitten durch die Wand. Drehte. Brachte beim zweiten Mal das Dach zum Einsturz. Wendete wieder und schob Bretter vor sich her, verfaulte Fässer, Tonsäcke, die alten Metallgerüste, Schnapskisten, aus denen sich Nattern wanden. Lauter unfertige Willy-Brandt-Figuren, an denen man sich hier Tag für Tag das Gute beweisen wollte, lagen in Stücken oder kippten gerade um.
    Er fuhr alles kurz und klein: Kartoffel- und Kornwagen, die Schrotmühlen, die alten, aus Holz geflochtenen Obstkörbe, die Brennkessel, den Anhänger, mit dem er und sein Großvater früher ins Umland gefahren waren, um die Tonmenschen zur Gießerei zu bringen. Er sah Nullkücks Werkzeugkoffer und stoppte. Er stapfte durch die verrotteten Strohreste von 1943. Über zerschlagene Flaschen und aufgeplatzte Kanister, aus denen es roch wie aus einem Leichenhaus. Er sah verbogenes Stangenlot, eine Eisensäge, abgetrennte Schlangenköpfe, Modellierhölzer, Stoffreste einer Unterhose. Einen Sack mit dem Wiener Kalk seiner Großmutter. Eine alte Deutschlandfahne. Otto-Kataloge. Zerrissene Hasenmenschen, die aus einer Kiste hingen. Er bückte sich über einen Suppenteller, auf dem Weberknechte umherirrten. Er verfolgte den Lauf einer Kette, die an einem der Balken befestigt war. Er stieg über den Arm, den sie von einem der Reichsbauernführer abgetrennt hatten. Er hob Papierstückchen auf, vergilbt, verdreckt, auf einem war wieder der Turm der Psychiatrie zu erkennen, auf einem anderen stand Lübeck - Ratzeburger Allee ... Begonnene, verworfene, zerfetzte Onkelbriefstückchen. Irgendwann kniete Paul neben einem der Brandt-Köpfe mit tiefen Falten und Ecken in den Haaren.
    Später trat er aus den Trümmern und lief in den Garten zu Nullkück.
    »Vielleicht gehen wir rein und arbeiten ein bisschen an deinen Zinnsoldaten?«, sagte er und hielt ihm den Werkzeugkoffer hin.
    Nullkück schaute nicht auf. Er grub sich immer weiter durch die Erde - wie die kleinen Tiere mit dem grauen oder braunen Samtpelz, die er sonst mit der Knoblauchbrühe und den Klopfzeichen aus dem Garten vertrieb.
     

Grundbruch (Und Nullkück kann nicht mehr)
    Vom gewaltigen Stein in der Tiefe, wenige Meter neben der Westseite des Hauses, wusste man nichts. Brüning war mit den Männern bis auf die stabileren Sandschichten

Weitere Kostenlose Bücher