Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
kommt eher ein Igel zu meiner Beerdigung als ein Mensch in mein Leben ...«
Er saß nun unendlich traurig am Tresen und legte den Kopf in seine Arme, dabei fiel die Schnapsflasche herunter und rollte quer über den Boden zum Ausgang hin.
Ohlrogge drehte sich um, sah der Flasche nach - und vom Licht der Pornowand erhellt, erkannte Paul den leblosen Blick seines Vaters, vor dem er schon aus den Hammewiesen geflüchtet war.
Die Flasche kam genau auf ihn zu.
Er wich zurück, lief erneut auf die Toilette. Er riss den Vorhang zur Seite, öffnete das kleine Fenster. Er steckte seinen Kopf hindurch, zwängte den Rest ins Freie. Er rannte über die alte Wiese von früher, an seinem Tor vorbei, und verbrachte die Nacht mit Wegen und Stunden, in denen er bis zum Fluss und zu der Stelle lief, wo der Hustensaft seiner Kindertage an ihm vorbeigetrieben war.
Am frühen Morgen kehrte Paul zum Haus zurück, das dalag wie ein verlorenes Schiff.
Vom Ende
Es war ein sommerlicher Vormittag. Aus dem Haus stieg Dampf auf, ein seltsamer Dunst, der sich wie Nebelschwaden um die absinkende Westseite legte.
Unter der Eiche im Garten war die Erde in Bewegung geraten. Es schien, als würden die Wurzeln aus der Tiefe ächzen und an dem alten Baum ziehen - und so gerieten auch all die bronzenen Figuren, die an ihm hingen, in Bewegung. Bei einigen nahm die Spannung zu, bei anderen ließ sie nach, sodass sie für das Moor freigegeben waren und schon bald versinken würden, als Erstes Luther.
Paul lehnte sich an den alten Baum und beobachtete seine Großmutter und Willy Brandt, dessen Augen sich leicht bewegten und ihn zu mustern schienen.
»Nun sag du doch mal was!«, rief er irgendwann der Brandt-Skulptur zu und sah auf ihre Revers-Ecken im Sakko, die er vor langer Zeit mit Großvaters Modellierhölzern selbst geschlitzt hatte. Die einzige künstlerische Tat, die ich je vollbracht habe, dachte er.
Sein Handy piepte. SMS von Christina!
Paul sprang auf und sah auf die Marie-Skulptur. Auf den Rissen, auf der geplatzten Naht: überall Fliegen!
Er lief ins Haus. Er watete durch das Grundwasser, setzte seine Füße über tiefe Spalten. Aus seinem Kinderzimmer holte er seine Tasche. Die Schneekönigin. Und die dunkelblaue Krawatte mit dem alten Vaterknoten. Aus der Gefriertruhe das Stück Butterkuchen. Beim Verlassen des Hauses griff er noch nach einem der berühmten Heinrich-Vogeler-Stühle.
Er legte das Stück Kuchen neben Marie in die Sonne und hoffte, dass die Fliegen von ihr lassen würden. Er band seiner Großmutter die Krawatte um und zog aus seiner Hosentasche ein riesiges Stofftuch, das er noch nie gesehen hatte.
Er spürte, dass auch der Stuhl, auf dem er saß, versank, und holte aus der anderen Tasche sein Notizbuch hervor.
Aktuelle Probleme:
1. Grundbruch
2. Die Toten im Garten (In Bronze gegossene Marie!!!)
3. Der Letzte der Kücks liegt im Koma und wird sterben. (Armer Nullkück!)
4. Wie noch leugnen, dass der Mann in den Wiesen und im Nachtclub mein Vater war? (Nun kann ich Wendland auch streichen. Jetzt heiße ich nur noch Paul.)
Er zog mit einem Ruck seine Schuhe aus dem Moor, das gluckste und zischte, als würde man einem seltsamen gierigen Tier die Beute wegnehmen. Er notierte unter die Vater-Thematik:
5. Schon wieder nasse, sumpfige Füße. Mein ganzes Leben nasse, sumpfige Füße.
Dann lief er mit seiner Tasche und der Schneekönigin in die Wiesen hinein, die sich weit nach dem Westen hin erstreckten und ganz am Ende mit dem Himmel zusammenflossen.
Impressum
Gebundene Ausgabe: 481 Seiten
Verlag: Kiepenheuer & Witsch; Auflage: 1., Auflage (22. Februar 2010)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3462041908
ISBN-13: 978-3462041903
ebook Erstellung - März 2010 - TUX
Ende
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