Der Maskensammler - Roman
«Vom Kapitän habe ich schlechte Nachrichten. Die Deutschen sind in Polen einmarschiert. In Europa ist Krieg. Das heißt, ich werde Ihren Vater jetzt längere Zeit nicht besuchen können. Nach den Rassengesetzen der Nazis bin ich Halbjude. Ich werde auf Schiffen wie der ‹Sindaro› künftig mein Leben verbringen.»
Eines Abends, als sie in der Offizierskoje zusammensaßen, zu der Dr. Holzer als Schiffsarzt Zugang hatte, sagte er unvermittelt: «Ich weiß nicht, ob Ihnen klar ist, was Ihrem Vater widerfahren ist.» Und er erzählte von dem Vorfall im Mai 1933, der von einem Tag auf den anderen Egon von Riederer seinen Beruf, sein Ansehen und sein Selbstbewusstsein genommen hatte.
***
«Wie Sie sicher wissen, hatte Ihr Vater einen Lehrstuhl für Germanistik an der Uni Köln. Seine Studenten waren unter Anführung eines Assistenten an der Verbrennung von Büchern jüdischer und kommunistischer Schriftsteller beteiligt, maßgeblich beteiligt. Die halbe Institutsbibliothek räumten sie aus und warfen sie auf den Scheiterhaufen. Sie taten es mit Begeisterung und riefen, als die Flammen hochschlugen, nach ihrem Professor. Aber der war an diesem 17. Mai 1933 unauffindbar. Von Riederer war auf der Jagd. Er hatte eine Woche Urlaub genommen, das wurde übel vermerkt.
Am Tag seiner Rückkehr stand der Assistent vor seiner Haustür und wollte eine Erklärung. Ihr Vater ging ihm voraus ins Arbeitszimmer, ließ sich den Hergang der Ereignisse schildern und sagte abschließend, er habe nicht vor, sich zu rechtfertigen. Der Assistent erstattete Bericht: Im Bücherregal von Professor Riederer habe ereine Ausgabe der Werke von Heinrich Heine sowie Romane von Lion Feuchtwanger, Joseph Roth und Erich Maria Remarque gesehen. Es folgte eine Befragung, ein Verhör, wie Ihr Vater es empfand. In dem Protokoll, das er unterschreiben musste, wurde der Satz festgehalten: ‹Ich als Germanist beurteile Schriftsteller nicht nach politischen, sondern nach literarischen Kriterien.› Dieser Satz führte zu seiner Entlassung, der Status eines Staatsbeamten wurde ihm abgesprochen, das Schild an seiner Institutstür entfernt. Keiner seiner Studenten oder Kollegen schüttelte ihm zum Abschied die Hand. Daraufhin strich Ihr Vater den ‹Professor› von seinen Briefbögen und aus seinem Leben.
Als Lehrstuhlinhaber muss Ihr Vater gewusst haben, was die Nazis in jenen Tagen planten. Er entschloss sich wegzufahren, um an der schändlichen Tat nicht teilnehmen zu müssen. Er wusste, was er tat, und nahm die Folgen auf sich. Dafür hat Ihr Vater meine Hochachtung. Ich bewundere seine Zivilcourage.»
Die Luft in der Offizierskoje war stickig, ein Deckenventilator verteilte Tabakqualm gleichmäßig im Raum. Bernhard, der die letzten Stunden auf Deck verbracht hatte, um das Aufgehen des Mondes nicht zu verpassen, kämpfte gegen Atemnot. «Gerade weil er ein konservativer Deutschnationaler war, war Ihr Vater über seinen Rausschmiss verbittert – oder ist es noch. Ich habe ihm so manchen Hinweis auf lesenswerte Bücher zu verdanken. Er hat mir mal eine Liste zusammengestellt mit den Autoren deutscher Sprache, deren Werke in keiner Bibliothek fehlen dürfen. Da waren die Bücher von Kurt Tucholsky, Arnold Zweig und Erich Kästner ebenso dabei wie die von Thomas und Heinrich Mann.»
Bernhard hörte zu, aufmerksam, aber die Worte hinterließen kein Echo, keine Empfindung, weder Empörung noch Stolz, auch nicht Mitleid. Dr. Holzer hatte eine angenehm weiche Stimme, Bernhard mochte den Klang und die eigentümliche Art, wie Dr. Holzer zum Ende eines Satzes hin die Vokale dehnte.
Es entstand eine Pause. Bernhard hätte etwas sagen müssen: «Das habe ich nicht gewusst» oder «Mein Vater hat mir das so nie erzählt», aber er verpasste den Zeitpunkt. Die Stille lähmte ihn. Er wusste, was jetzt kommen würde: ein Absturz. Der Faden der Kontinuität riss, seine Gedanken verloren den Zusammenhalt, er öffnete den Mund, um Dr. Holzer zu danken, aber heraus kam ein ganz anderer Satz: «Ich habe meinen Vater hinters Licht geführt … Ich habe ihn betrogen.»
***
Es war schon spät, in der Offizierskoje wurde die Nachtbeleuchtung eingeschaltet. Bernhard saß im Dämmerlicht, die Stirn in eine Hand gestützt. Mit einem Schluck Wasser spülte er seinen trockenen Mund. «Ich habe unter ihm gelitten, seinen Attacken war ich hilflos ausgesetzt. Am schlimmsten aber war seine Nichtachtung, die konnte ich nicht länger ertragen. Als er eines Morgens ein Lied
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