Der Maskensammler - Roman
Herzens, war verstummt: das ferne, kaum wahrnehmbare Dröhnen der Dieselmotoren, das sich in einem feinen Vibrieren auf alles übertrug, was man berührte. Dann erst bemerkte er die Dunkelheit. Der vertrauteLichtstreifen unter seiner Kabinentür war verschwunden. Um ihn herum war Finsternis, die ihm das Gefühl gab, nach einer Katastrophe von nicht gekanntem Ausmaß der letzte Überlebende zu sein. Ohne ein Bewusstsein für Zeit und Raum trieb er dem Morgen entgegen.
Es stellte sich heraus, dass aus noch nicht bekannten Gründen die Motoren ausgefallen waren. Der Kapitän ordnete daraufhin an, den Strom abzuschalten, um das Notaggregat zu schonen. Die Passagiere spalteten sich in zwei Lager: Die einen hielten Schlamperei für die Ursache der Panne und wollten sich bei der Reederei beschweren, die anderen vermuteten Sabotage und waren auf das Schlimmste gefasst. Die «Sindaro» aber wurde von einer sanften Strömung ostwärts getrieben.
Kein Lufthauch rührte sich. Eine dräuende Schwüle lag über dem Schiff, sein eiserner Rumpf dampfte in der Mittagssonne und strahlte nachts die Hitze ab wie ein Heizkörper. Von dem fiebrigen Dunst, hinter dem der Horizont verschwand, verloren die Passagiere langsam den Verstand. Sie glaubten, die Schuldigen für ihr Elend gefunden zu haben. In der Mannschaft gärte es, tief unten im Bauch des Schiffes planten sie eine Meuterei. Einer der Verschwörer hatte einen Schraubenschlüssel, einen Hammer oder Ähnliches zwischen die Zahnräder der Maschine geworfen. Es war keine Panne, es war Sabotage, davon waren sie überzeugt.
Vor dem Behandlungsraum des Schiffsarztes drängten sich die Passagiere. Fluchend und den Tag verwünschend, an dem sie die Reise angetreten hatten, wischten sie sich die Stirn und den Nacken mit feuchten Taschentüchern. Sie klagten über ein Leiden, für das Dr. Holzer kein Heilmittel hatte. Er sah die Erschöpfung in ihren Gesichtern und die Verzweiflung in ihren Augen und versuchte, sie mit nutzlosen Pillen zu beruhigen. Dem «Amerikaner», der sich mit hochrotem Kopf an den anderen vorbeidrängte und – als man ihn zurückhalten wollte – schrie: «Sie sehen doch, wiekrank ich bin!», gab er eine Beruhigungsspritze mit einer Vitaminlösung. Auch er litt unter der Ungewissheit.
Bernhard rückte einen Tisch in eine Ecke des Speiseraumes, von der aus er nach allen Seiten einen guten Überblick hatte. Er trug eine Halskrause aus Toilettenpapier, um den Schweiß abzufangen, und auf die Sitzfläche des Stuhles legte er ein Handtuch, das er von Zeit zu Zeit auswechselte. Für ihn war die Situation ergiebig, sie konnte andauern. Die Hände der Vorbeikommenden waren in hellem Aufruhr, verloren aber plötzlich ihre hektische Energie und hingen dann schlaff herab wie in Selbstaufgabe. Er kannte sie nun alle, immer besser gelang es ihm, ihre Botschaften zu lesen. Sein Block füllte sich mit einem Panoptikum von Gesten, in denen sich alle möglichen Seelenzustände seiner Mitreisenden spiegelten.
Mit der Hilflosigkeit begann für die Passagiere eine neue Zeitrechnung. Was immer sie in ihrem bisherigen Leben gewesen waren, Direktoren oder Geschäftsführer, Inhaber von Diplomen oder Urkunden, Träger von Orden oder maßgeschneiderten Anzügen, es verlor jede Bedeutung. Der Kapitän forderte sie auf, Ruhe zu bewahren. Er bat sie um Geduld und versicherte, es würde alles getan, um den Schaden so schnell wie möglich zu beheben. Was genau, sagte er nicht und ließ sich daraufhin wenig blicken. Die Passagiere waren ihren Vermutungen und Ahnungen überlassen.
Am zweiten Tag zeigten sich die ersten Männer der Schiffsbesatzung an Deck. Es waren kleine, hagere Gestalten mit ölverschmierten Händen. Von den Passagieren misstrauisch beäugt, hockten sie stumm auf die wenigen schattigen Ecken verteilt, kauten und spuckten einen grünlichen Saft aus.
Gegen Abend war es ein Dutzend. Sie versammelten sich auf der freien Fläche vor den Schornsteinaufbauten und gaben Laute von sich, die wie Worte aus einer Papageiensprache klangen. Einer zeichnete einen Kreis auf die Planken, den ein anderer, der durch einen kleinen Kinnbart auffiel, oben und unten, rechts und linksdurch vier Zeichen ergänzte. Dann ging er um den Kreis herum und murmelte etwas, das man als Gebet oder Beschwörungsformel verstehen konnte. Dies alles vollzog sich in angespannter Ruhe, in runden, schläfrigen Bewegungen.
Da trat aus der Kajütentür ein Mann, größer und dunkelhäutiger als die anderen. In der
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