Der Maskensammler - Roman
beleeft verzocht, vanaf 17.00 uur …» Der Rest war unleserlich. Auf der Suche nach einem Schattenplatz trat Bernhard ein paar Schritte zurück und zog unter Mühen die schweren Koffer hinter sich her. Dabei verstellte er einem Lieferwagen den Weg, der Fahrer hupte und lehnte sich fluchend aus dem Fenster. In dem Moment passierte es: In der Stahlschlaufe eines Krans verrutschte durch den Schwung der Drehbewegung eine Kiste, hing für eine Sekunde unentschlossen zwischen Himmel und Erde und fiel dann krachend genau auf die Stelle, an der Bernhard eben noch gestanden hatte. Unbeeindruckt von der glücklichen Fügung, unbeeindruckt auch von dem Schmerzensschrei einer Frau, die ein zersplittertes Brett am Bein getroffen hatte, hob er einen der Äpfel auf, die ihm vor dieFüße rollten, und beschloss, noch einen Kaffee zu trinken, bevor es Zeit war, an Bord zu gehen.
***
An einem Mittwoch, den sein Vater wie üblich auf einem Hochstand verbrachte, war er in den Speicher von Haus «Diana» gestiegen, hatte einen mittelgroßen Koffer genommen, ihn ein Stockwerk tiefer mit brauchbaren Habseligkeiten gefüllt und hatte ohne Gefühlsregungen den Ort verlassen, an dem er sein ganzes bisheriges Leben zugebracht hatte.
Noch am selben Tag entschloss er sich, den Adelstitel abzulegen, den seine Vorfahren seit dreihundert Jahren geführt hatten. Sein Entschluss kam spontan, was sonst nicht seine Art war, und war endgültig. Wenn er beim Einkauf von Knäckebrot, Zwieback und haltbaren Keksen in gewohnter Weise angesprochen wurde, bat er, den «Herrn Baron» durch ein schlichtes «Herr Riederer» zu ersetzen.
Die Reisevorbereitungen hatten ihn Kräfte gekostet, die aufzubringen er nicht gewohnt war.
Wenn er morgens aufwachte, stand ihm die Szene im Büro von Bankdirektor Stadelheim vor Augen: Der alte Herr kam mit einem freundlichen Lächeln auf ihn zu, betrachtete ihn interessiert und zog, als er sah, wie blass der junge Riederer war, die linke Braue ein wenig hoch. Wie geistesabwesend stand Bernhard an seinem Schreibtisch, als er den Scheck entgegennahm. Nein, er wollte die ihm von seinem Vater geschenkte Summe nicht in Wertpapieren anlegen, sondern frei über sie verfügen können. Er deutete an, dass er sich mit dem Gedanken trage, eine Wohnung zu kaufen. Für den Beginn seiner Lehre in der Bank bat er um einen Aufschub von sechs Wochen.
Der Gang zu den Ämtern wie die Besorgungen und die damitverbundenen Entscheidungen standen vor ihm wie ein Berg an Unannehmlichkeiten. Die Ausreisebedingungen waren erst kürzlich verschärft worden. Anträge mussten gestellt, Auskünfte erteilt und unendlich lange Wartezeiten in Kauf genommen werden.
Als Bernhard unter einem Bild des Führers ein Formular ausfüllte, um eine mit Stempel und Unterschrift versehene Erlaubnis zu erhalten, Deutschland zu verlassen, gab er als Grund seiner Reise «weiterführende Studien vor Ort» an. Der Beamte, der ihn befragte, trug eine Hakenkreuzbinde am Arm und wollte wissen, ob Bernhard vorhabe, sich ins Ausland abzusetzen, um dem Wehrdienst zu entgehen. «Nein, nein!», stotterte Bernhard. Der Gedanke, dass er als Soldat eingezogen werden könnte, war ihm noch nicht gekommen. Nur einmal, als sich im Seminar zwei Kommilitonen «zur Verteidigung der Heimat mit der Waffe» mit einem «Heil Hitler!» verabschiedeten, hatte er dem Vater eine Frage gestellt. «Beruhige dich! Du hast einen Flecken auf der Lunge», hatte der geantwortet.
Noch nie hatte er so viele Dinge erledigen müssen, aber er ging für seine Verhältnisse zielstrebig ans Werk. Für die Einkäufe hatte er eine Liste angelegt, die mit der Zeit immer länger wurde und vornehmlich Anschaffungen enthielt, von denen er nicht wusste, ob sie wirklich nötig waren. Brauchte er eine Taschenlampe, einen Wasserfilter oder eine Creme, um sich gegen Moskitos zu schützen? Filme standen ganz oben auf seiner Liste, aber wie viele mussten es sein und welche waren tropentauglich? Konnte man vor Ort Unterwäsche kaufen, wenn die mitgebrachte nicht ausreichte? War es ratsam, einen Vorrat an kleinen Gastgeschenken mitzunehmen, und was konnte das sein? Außer Kölnischwasser fiel ihm nichts ein. Gern hätte er ein scharfes Messer gekauft, um mit ihm Mangos, Papayas und Wassermelonen zu zerteilen. Aber konnte ein solches Messer nicht auch als Waffe gegen ihn selbst verwendet werden?
Die größte Anschaffung waren die beiden Schiffskoffer. Englische Fabrikate galten als die besten, aber eine Bestellung direkt
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