Der Meister
stetige Summen der Reifen auf dem Asphalt.
Immer noch fuhren sie schnell. Boston lag schon weit hinter ihnen.
Es ist wunderschön hier im Wald. Ich bin umringt von Bäumen, deren Wipfel in den Himmel aufragen wie die Türme einer gotischen Kathedrale. Den ganzen Vormittag hat es geregnet, doch jetzt bricht ein Sonnenstrahl durch die Wolkendecke und fällt auf die Erde, genau dort, wo ich vier Eisenpflöcke in den Waldboden geschlagen und mit vier Seilstücken umwickelt habe. Bis auf das stete Tropfen aus dem Laubdach ist alles still.
Dann höre ich ein flatterndes Geräusch und blicke auf. Drei Krähen sind über mir auf einem Ast gelandet. Sie beobachten mich mit merkwürdig interessierten Blicken, als ahnten sie schon, was ich vorhabe. Irgendwie haben sie die Bedeutung dieses Ortes erkannt, und jetzt sitzen sie da, plustern ihr schwarzes Gefieder und warten, angelockt von der Aussicht auf einen Leckerbissen – frisches Aas.
Der Sonnenschein wärmt die Erde, und aus dem nassen Laub steigt Dunst auf. Ich habe meinen Rucksack an einen Ast gehängt, damit er trocken bleibt, und er wirkt wie eine überreife Frucht mit seiner schweren Last, die ihn herabzieht. Ich muss den Inhalt nicht noch einmal überprüfen; ich habe alles sorgfältig zusammengestellt, habe genüsslich den kalten Stahl betastet, bevor ich die Instrumente im Rucksack verstaut habe. Auch nach einem Jahr in Haft sind sie mir noch vertraut wie eh und je, und wenn meine Finger ein Skalpell umschließen, ist es ein Gefühl, als ob ich einem alten Freund die Hand schüttelte.
Aber jetzt will ich eine andere alte Freundin begrüßen.
Ich gehe nach vorne an die Straße und warte.
Von der Wolkendecke sind nur ein paar dünne Fetzen zurückgeblieben, und es ist noch ein schwülwarmer Nachmittag geworden. Die » Straße « ist im Grunde nur eine ungeteerte Schneise mit zwei parallel verlaufenden Furchen. Dazwischen wuchert hoch das Unkraut. Die empfindlichen Fruchtstände des Löwenzahns sind unversehrt, was darauf schließen lässt, dass hier schon länger kein Auto mehr vorbeigekommen ist. Über mir höre ich ein Krächzen, und als ich aufblicke, sehe ich, dass die drei Krähen mir gefolgt sind. Sie warten auf den Beginn der Vorstellung.
Irgendwie sind wir doch alle Voyeure.
Eine dünne Staubwolke steigt hinter den Bäumen auf. Ein Auto nähert sich. Mein Herz schlägt schneller, während ich warte, meine Hände schwitzen vor Aufregung und Vorfreude. Endlich kommt es um die Kurve gefahren, ein glänzendes schwarzes Ungetüm, das langsam den Waldweg hinaufkriecht, in würdevoll-gemessenem Tempo. Es bringt mir das Wiedersehen mit meiner alten Freundin.
Es wird ein längerer Besuch werden, denke ich. Ich werfe einen Blick zum Himmel und sehe, dass die Sonne noch recht hoch steht. Uns bleiben noch viele Stunden bei Tageslicht, Stunden ungetrübter Sommerfreuden.
Ich trete in die Mitte des Weges. Die Limousine rollt langsam aus und kommt vor mir zum Stehen. Der Fahrer steigt aus. Wir müssen keine Worte wechseln; wir sehen uns nur an und lächeln. Das Lächeln zweier Brüder, geeint nicht durch Familienbande, sondern durch das, was wir gemeinsam begehren, die Objekte unserer Lust. Das geschriebene Wort hat uns zusammengeführt. In langen Briefen haben wir unsere Fantasien gesponnen und unser Bündnis geschmiedet, und die Worte, die aus unseren Federn flossen, waren wie die feinen, seidigen Fäden eines Spinnennetzes, das uns aneinander band. Und uns in diesen Wald führte, wo die Krähen uns mit gierigen Augen beobachten.
Zusammen gehen wir zum Heck des Wagens. Er ist schon ganz erregt von der Vorstellung, sie zu vögeln. Ich sehe, wie sich seine Hose ausbeult, und ich höre das metallische Klirren der Schlüssel in seiner Hand. Seine Pupillen sind geweitet, und seine Oberlippe glänzt vor Schweiß. Wir stehen vor dem Kofferraum, begierig auf den Anblick unseres Gastes. Auf den ersten, köstlichen Hauch ihrer Todesangst.
Er steckt den Schlüssel ins Schloss und dreht ihn um. Der Kofferraumdeckel springt auf.
Sie liegt zusammengerollt auf der Seite, geblendet von dem plötzlich einfallenden grellen Sonnenlicht. Ich bin so fasziniert von ihrem Anblick, dass ich die Bedeutung des weißen BHs nicht sofort erfasse, der an einer Ecke aus dem kleinen Koffer heraushängt. Erst als mein Partner sich bückt, um sie aus dem Kofferraum zu heben, begreife ich, was das bedeutet.
» Nicht! « , rufe ich.
Aber schon hat sie beide Hände nach vorne gerissen. Und
Weitere Kostenlose Bücher