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Der Meister

Der Meister

Titel: Der Meister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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mich gewartet. Vielen Dank.«
    Sie beendete das Gespräch und bückte sich, um die Sachen aufzuheben, die aus ihrer Handtasche gefallen waren. Der Kugelschreiber war unter den Fahrersitz gerollt. Als sie die Hand danach ausstreckte und mit den Fingern über den Boden strich, fiel ihr plötzlich die Farbe des Teppichbodens auf. Marineblau.
    Ganz langsam setzte sie sich auf.
    Sie waren soeben in den Callahan-Tunnel eingefahren, der unter dem Charles River hindurchführte. Der Verkehr war dichter geworden, und sie krochen in einer Blechlawine durch die scheinbar endlose, in schwaches bernsteinfarbenes Licht getauchte Betonröhre.
    Marineblaues Nylon 6.6, Dupont Antron. Standard für Innenraumverkleidung bei Cadillacs und Lincolns.
    Sie verharrte reglos, den Blick auf die Tunnelwand gerichtet. Sie dachte an Gail Yeager und an Trauerzüge, an die Schlangen von Limousinen, die sich langsam die Straße zum Friedhofstor hinaufwanden.
    Sie dachte an Alexander und Karenna Ghent, die nur eine Woche vor ihrem Tod auf dem Logan Airport gelandet waren.
    Und sie dachte an Kenneth Waite und seine Verwarnungen wegen Alkohol am Steuer. Ein Mann, dem der Führerschein entzogen worden war, der aber dennoch mit seiner Frau nach Boston gefahren war.
    Findet er sie so?
    Ein Paar steigt zu ihm in den Wagen. Im Rückspiegel erblickt er das hübsche Gesicht der Frau. Sie macht es sich in dem weichen Ledersitz bequem, freut sich aufs Nachhausekommen – und dabei ahnt sie nicht, dass sie beobachtet wird. Dass ein Mann, dessen Gesicht sie kaum registriert hat, in diesem Augenblick beschließt, dass sie die Nächste sein wird.
    Die bernsteinfarbenen Lichter des Tunnels glitten vorüber, während Rizzoli ihre Theorie zusammenfügte, Stein für Stein. So ein luxuriöser Wagen, so eine ruhige Fahrt, die Ledersitze weich wie Babyhaut. Ein namenloser Mann am Steuer. Alles zielte darauf ab, dem Fahrgast ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit zu vermitteln. Sie weiß nichts über den Mann auf dem Fahrersitz. Aber der Fahrer kennt ihren Namen. Die Flugnummer. Die Straße, in der sie wohnt.
    Der Verkehr war inzwischen ganz zum Erliegen gekommen. Weit voraus konnte sie das Ende des Tunnels ausmachen, eine kleine Öffnung, einen schwachen grauen Schimmer. Sie blickte weiter starr zum Fenster hinaus, wagte es nicht, den Fahrer anzusehen. Er sollte nicht sehen, dass sie etwas ahnte. Ihre Hände schwitzten, als sie in ihre Handtasche griff und ihre Finger sich um das Handy schlossen. Sie nahm es nicht heraus, sondern blieb reglos sitzen und überlegte, was sie als Nächstes tun sollte – falls sie überhaupt etwas tun konnte. Bis jetzt hatte der Fahrer noch nichts getan, was ihr einen Anlass zur Beunruhigung gegeben hätte, nichts, woraus sie hätte schließen können, dass er nicht das war, was er zu sein vorgab.
    Langsam zog sie die Hand mit dem Telefon aus der Tasche. Klappte es auf. Blickte angestrengt auf das Display, um im Dämmerlicht des Tunnels die Nummern lesen zu können. Es muss ganz beiläufig klingen, sagte sie sich. Als ob du dich nur mal eben bei Frost melden wolltest – und nicht etwa einen verzweifelten SOS-Ruf absetzen. Vielleicht »Ich glaube, ich habe ein Problem, aber ich bin mir nicht sicher«? Sie drückte die Taste für die Schnellwahl von Frosts Nummer. Sie hörte den Anrufton, dann ein schwaches »Hallo?«, gefolgt von Rauschen.
    Der Tunnel. Ich stecke in dem verdammten Tunnel.
    Sie brach die Verbindung ab. Spähte nach vorne, um zu sehen, wann sie wieder im Freien sein würden. In diesem Moment streifte ihr Blick unwillkürlich den Innenspiegel. Sie beging den Fehler, ihm in die Augen zu sehen, zu registrieren, dass er sie beobachtete. Jetzt war es zu spät – er wusste, dass sie Bescheid wusste. Sie hatten beide verstanden.
    Raus hier! Raus aus dem Auto!
    Sie packte den Türgriff, doch er hatte schon die Sperre betätigt. In Panik drückte sie auf den Freigabeknopf und rüttelte an der Tür.
    Mehr Zeit brauchte er nicht, um über die Rückenlehne hinweg mit dem Taser auf sie zu zielen und abzudrücken. Der Doppelpfeil traf sie in die Schulter. Fünfzigtausend Volt entluden sich in ihren Körper, ein elektrischer Schlag, der wie ein Blitz durch ihr Nervensystem fuhr. Sofort wurde ihr schwarz vor Augen. Sie sank auf dem Sitz zusammen, ihre Hände versagten den Dienst; sämtliche Muskeln verkrampften sich. Sie verlor die Gewalt über ihren Körper – ein zitterndes, hilfloses Bündel Fleisch.
     
    Ein trommelndes Geräusch,

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