Stolperherz
Where there is desire
There is gonna be a flame
Where there is a flame
Someone’s bound to get burned
But just because it burns
Doesn’t mean you’re gonna die
You’ve gotta get up and try try try
Gotta get up and try try try
You gotta get up and try try try
(Pink, Try)
1. KAPITEL: KIRA
Mut: auch Wagemut oder Beherztheit; bedeutet, dass man sich traut und fähig ist, etwas zu wagen.
Die Bereitschaft, angesichts eines zu erwartenden Nachteils etwas zu tun, was man für richtig hält.
Mut zeigt, wer einer bestehenden Gefahr ins Auge sehend eine Handlung ausführt, obwohl man sich der Gefahr durchaus bewusst ist.
Ich klappte den Duden zu und legte ihn neben mich auf das Kopfkissen. Unsere Klassenlehrerin Frau Weinberg hatte mal wieder mit einer ihrer ausgefallenen Ideen für den Deutschunterricht brilliert.
»Schreibt einen freien Aufsatz über eines der folgenden Wörter: Liebe, Hass, Wut, Vergebung, Glück oder Mut«, hatte sie erklärt. »Den Aufsatz macht ihr über die Sommerferien fertig und im August lesen alle nacheinander vor, was sie geschrieben haben.« Dann hatte sie uns in Vierer-Gruppen aufgeteilt.
Ich war in der Mut-Gruppe. Ausgerechnet.
Denn ich war nicht mutig. Noch nie gewesen.
»… dass man sich traut, etwas zu wagen«, murmelte ich leise vor mich hin, während ich mich von der Seite auf den Rücken rollte und die Arme hinter meinem Kopf verschränkte.
Ich traute mich nie irgendetwas.
Ich hatte mich noch nicht mal getraut zu sagen, dass die Mut-Gruppe vielleicht nicht gerade das Richtige für mich war. Ich hatte es versucht, das schon. Aber mein Arm war wie bleiern, als ich aufzeigen wollte, und ich brachte nichts heraus außer einem leisen »Ich, also ich würde ja gern …«. Niemand schien meinen halbherzigen Versuch bemerkt zu haben, kein Wunder, sogar eine Grille in einer lauen Sommernacht, 200 Kilometer von hier entfernt, hätte mich übertönt. Danach hätte ich am besten in die Wut-Gruppe gepasst, so sauer war ich. Und zwar auf mich selbst, denn ich war noch nicht mal in der Lage zu sagen, dass ich gerne gewechselt hätte. Ich befürchtete einfach, dass mir die Stimme versagte.
Es war nicht so, dass ich generell Angst vorm Reden hatte, allerdings generell vorm Reden vor Menschengruppen. Immer wenn ich nur daran dachte, dass mehrere Menschen im Raum gleichzeitig meine Lippenbewegungen beobachten würden, um womöglich dem zu folgen, was ich sagte, bekam ich sofort einen Schweißausbruch. Keinen von der Sorte, bei der einem etwas peinlich ist und man davon einen hochroten Kopf kriegt. Eher einer der Art, bei dem der Schweiß kalt ist, so kalt, dass man davon Schüttelfrost bekommt und glaubt, der Raum sei in Sekundenbruchteilen um zehn Grad heruntergekühlt worden. Da Menschengruppen in Schulklassen nun mal zwangsläufig vorkommen, sprach ich wohl oder übel so gut wie nie.
Nein, mutig war ich wirklich nicht.
Aber wie auch? Meine Mutter Lisa sorgte ja Tag und Nacht dafür, dass ich immer schön vorsichtig war, mich bloß nicht anstrengte oder aufregte. Ich wusste, dass sie es gut meinte, dass sie sich Sorgen machte.
»Dein Herz hat öfter mal einen kleinen Kurzschluss«, hatte uns der Kinderarzt damals gesagt, »aber mit ein paar Medikamenten bekommen wir das sicher in den Griff.«
Das war jetzt sechs Jahre her und genauso lange war es auch her, dass meine Mutter mich auch nur eine Sekunde aus den Augen gelassen hatte. Damals hatte sie sofort ihren Halbtagsjob als Bürokraft aufgegeben, um ganz für mich da zu sein. Paps, der immer viel auf Vertriebsreisen war und sich deswegen nicht genügend um mich kümmern konnte, hatte dieser Entscheidung sofort zugestimmt.
Seitdem nahm ich Sotalol , ein Medikament, das das Ausströmen von Kalium aus den Herzmuskelzellen verhinderte und so die Erregungsleitung im Herzen verlangsamte, und noch ein paar andere Medis. Die häufig auftretenden, gefährlichen Extraschläge bekamen wir trotzdem nicht immer in den Griff, und an schlechten Tagen konnte es passieren, dass mein Kreislauf schlappmachte. An besseren Tagen wurde mir vom Schwindelgefühl lediglich übel . Richtig gute Tage hatte ich wenige, aber meine Mutter gab die Hoffnung nicht auf, dass ich irgendwann »geheilt« würde.
Sie schleppte mich von einem Kardiologen zum nächsten, die ihr alle dasselbe sagten: »Ihre Tochter muss damit leben lernen.«
Mein Herz schlug eben nicht in dem Takt, der allen anderen vorgegeben war. Meist schlug es schneller und oft stolperte
Weitere Kostenlose Bücher