Der Memory Code
dem Stadtplan vorgezeichneten Route. Er wusste den Weg, obwohl er nicht die geringste Ahnung hatte, wohin er am Ende führte. Menschenleere, von teuren Geschäften gesäumte Boulevards wichen allmählich engen Gassen und uralten Gebäuden. Die Schatten wurden drohender. Doch er ging weiter.
Sollte er jemandem begegnet sein, so hatte er dies nicht bemerkt. Obwohl ihm war, als wäre er bloß eine halbe Stunde gelaufen, stellte sich hinterher heraus, dass der Marsch über zwei Stunden gedauert hatte. Er hatte zwei Stunden in einem tranceähnlichen Zustand verbracht. Josh hatte mitbekommen, wie die Nacht ihre Färbung änderte – von bläulichgrau zu hellgrau und dann, als die Sonne aufging, zu einem zitronengelb angehauchten Rosa. Er hatte beobachtet, wie sich das üppige Grün der Hügel aus diesem Farbenspiel herausschälte, ungefähr so wie auf einer Fotografie im Entwicklungsbad. Die gesamte Begebenheit war gleichermaßen verwirrend wie erstaunlich, zumal er auf genau jene Ausgrabungsstelle gestoßen war, zu der man ihn und Malachai Samuels für eine am Vormittag angesetzte Besichtigung geladen hatte. Wie, fragte sich Josh, bist du an diesen Ort gelangt? Er konnte es sich nicht erklären. War er rein zufällig hier gelandet?
Oder war es kein Zufall?
Der Professor fragte Josh nicht, was er in dieser Herrgottsfrühe wollte und wie er überhaupt zu der Ausgrabung gefunden hatte. “Ich an Ihrer Stelle hätte auch kein Auge zugetan”, rief er zu seinem Gast hoch. “Kommen Sie, steigen Sie runter. Avanti!”
Heilfroh, dass der Professor annahm, er sei aus lauter Begeisterung um halb sechs in der Früh angerückt, wagte sich Josh die ersten Leitersprossen hinab. Dabei verschloss er sich ganz bewusst jenen Anfällen von Platzangst, an denen er schon zeit seines Lebens litt und die sich seit dem Anschlag verschlimmert hatten.
Die Klänge aus Puccinis “Madame Butterfly”, die schon zuvor seine Aufmerksamkeit erregt und ihn zu ebendieser Hügelkuppe gezogen hatten, wurden allmählich lauter, und während er hinunterkletterte in die nur dämmrig beleuchtete Grabkammer, konzentrierte er sich auf eine herzergreifende Arie.
Der Raum war größer als erwartet, sodass Josh erleichtert aufatmete. Hier konnte man es einigermaßen aushalten.
Rudolfo begrüßte ihn mit Handschlag. Nachdem er die Lautstärke des verstaubten schwarzen CD-Spielers leiser gedreht hatte, begann der Professor mit der Besichtigung.
“Die Krypta ist etwa zwei Meter dreißig breit und zwei sechzig lang, für Sie als Americano circa acht mal sieben Fuß, gut sechs Quadratmeter. Gabriella – Professor Chase – und ich glauben, sie wurde in den letzten Jahren des vierten Jahrhunderts erbaut. Mit Sicherheit sagen können wir das allerdings erst nach einer Radiokarbondatierung. Aufgrund der hier gefundenen Gegenstände gehen wir jedoch von 391 nach Christus aus. In diesem Jahr also, in dem der Kult der Vestalinnen aufgelöst wurde. Verzierungen wie hier sind untypisch für eine Grabkammer dieser Art; möglicherweise war sie ursprünglich für jemand anderen bestimmt und wurde für die Vestalin benutzt, nachdem ihr Treuebruch entdeckt worden war.”
Josh hob die Kamera ans Auge, fragte aber sicherheitshalber den Professor, ob er etwas gegen eine Aufnahme habe. Früher, als er noch für die Presseagentur Associated Press tätig gewesen war, hätte ihn nichts vom Fotografieren abhalten können. Doch vor einem halben Jahr hatte er sich beurlauben lassen. Inzwischen arbeitete er als Video-und Fotograf bei der Phoenix Foundation. Er fotografierte die Kinder, die wegen ihrer Reinkarnationserlebnisse in die Stiftung kamen und dort untersucht wurden; seitdem bat er um Erlaubnis, bevor er den Auslöser drückte. Im Gegenzug erhielt er nicht nur Zugang zur weltweit größten Privatbibliothek mit dem Schwerpunkt Wiedergeburt, sondern zudem die Gelegenheit, mit den Gründern der Stiftung zu arbeiten.
“No, certo, nichts dagegen”, erwiderte Professor Rudolfo. “Aber tun Sie mir einen Gefallen? Stimmen Sie sich mit mir oder Gabriella ab, ehe Sie die Bilder veröffentlichen oder an jemanden weitergeben. Wir möchten die Ausgrabung noch vertraulich behandeln, bis wir endgültig wissen, was wir entdeckt haben. Damit keine falschen Erwartungen geweckt werden und wir dann womöglich erkennen müssen, dass wir mit unserer Einschätzung des Fundes danebenliegen. Vorsicht ist besser als Nachsicht, nicht wahr?”
Josh nickte, während er die Kamera fokussierte und
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