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Der Menschenraeuber

Der Menschenraeuber

Titel: Der Menschenraeuber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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was Sie da sagen, sie war jung, erschien so gesund und war mir ungemein sympathisch. War sie krank?«
    »Nein. Sie hat sich umgebracht, weil sie den Verlust unserer Tochter Lisa-Marie nicht verkraftet hat. Das Baby wurde gestohlen. Direkt nach der Geburt, aus dem Krankenhaus.«
    »O Dio, das ist ja entsetzlich!«, murmelte Sofia leise, ohne ihre Aufmerksamkeit von Daniela abzuwenden. Sie hatte immer ein kleines Stückchen des Bandes ihres Strampelanzugs in der Hand. So behielt sie die Kontrolle darüber, wo Daniela war, behinderte sie aber nicht in ihren Krabbelversuchen.
    »Ja, das wusste ich«, sagte Jonathan, »ich habe irgendwann einmal mit Ingrid Kerner telefoniert, und sie hat es mir erzählt. Wir haben sehr losen Kontakt miteinander, aber vom Selbstmord Ihrer Frau hat sie nichts gesagt.«
    Tobias sah in die Ferne. Die Hitze stand über den Bergen, und er stellte sich vor, die Wälder, Weinberge und Olivenhaine würden in Flammen aufgehen und die Feuerwalze würde sich langsam auf La Passerella zu bewegen. So wie die verheerenden Feuer, die jedes Jahr in Kalifornien wüteten. Einen Moment dachte er, dass es ein herrliches Bild wäre.
    Er war enttäuscht. Seine Reise hatte sich als sinnlos herausgestellt, er war Lisa-Marie nicht einen Zentimeter näher gekommen, sondern tausendfünfhundert Kilometer zu einem Spinner gefahren, dem es an Mitgefühl mangelte, da er sich nicht vorstellen konnte, was sein schwachsinniger Brief und die Fotos seines Kindes bei einem Menschen auslösen mussten, der sein Kind verloren hat.
    Aber dennoch bemühte er sich, seine Wut und seine Frustration nicht zu deutlich zu zeigen und sachlich zu fragen: »Warum haben Sie mir diesen Brief, der ja eigentlich nur aus zwei Sätzen bestand, geschrieben, und warum haben Sie mir Fotos Ihrer Tochter geschickt? Konnten Sie sich nicht vorstellen, dass Sie mir damit nicht helfen, sondern alles nur noch schlimmer machen?«
    »Sind Sie deshalb gekommen?«
    »Ja.«
    »Um mir Vorhaltungen zu machen?«
    »Ich weiß es nicht. Ich wollte mit Ihnen darüber reden.«
    »Du hast mir nie etwas von diesem geraubten Kind erzählt«, warf Sofia ein.
    »Nein. Ich wollte dich nicht beunruhigen. Du bist sowieso schon so überängstlich, was Daniela betrifft.«
    »Tut mir leid, aber ich verstehe Sie nicht. Ich kann Ihre Motivation nicht nachvollziehen, mir so einen Brief zu schicken.« Tobias wurde immer wütender. Jonathan kam ihm vor wie ein schleimiger, glatter Aal, der einem unentwegt aus der Hand flutschte, wenn man schon glaubte, ihn gefangen zu haben.
    »Ich wollte Sie weder kränken noch beleidigen noch Ihren Schmerz verschlimmern«, sagte Jonathan ruhig und jubilierte innerlich. Jetzt hatte er die Reaktion auf seinen Brief, so wie er sie sich gewünscht hatte, direkt vor sich, hier auf seiner Terrasse. »Ich wollte Sie trösten. Ihnen etwas Nettes, Aufmunterndes schreiben. Mehr nicht. Wenn ich damit genau das Gegenteil erreicht habe, dann entschuldigen Sie das bitte. Es war nicht meine Absicht.« Jonathan hörte selbst, wie geschraubt das alles klang, aber er konnte es nicht ändern.
    Tobias schwieg. Ihm war übel. Übel vor Hunger, weil er bis auf ein Croissant den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte, und übel von der Leere, die sich jetzt in seinem Kopf und in seinem ganzen Körper ausbreitete. Er konnte es einfach nicht ertragen, dass die Hoffnung von einer Sekunde zur anderen vollkommen vorbei sein sollte.
    »Bleiben Sie länger in der Toskana?«, fragte Jonathan freundlich.
    »Nein. Ich fahre morgen zurück.«
    »Darf ich Ihnen dann anbieten, für diese Nacht mein Gast zu sein? Eine unserer Ferienwohnungen ist zufällig frei, und ich möchte auch ein wenig wiedergutmachen, was ich durch diesen Brief angerichtet habe. Schließlich habe ich das ganze Ungemach ja zu verantworten.«
    Tobias überlegte. Er war müde, hungrig und durstig und hatte nicht die geringste Lust, noch eine Nacht in dem winzigen Zimmer in Ambra mit lediglich einem Waschbecken statt einer Dusche zuzubringen. Der Vorschlag war durchaus reizvoll. Es war wunderschön hier, und er sehnte sich nach einer Dusche und hatte auch gegen etwas Essbares und ein Glas Wein nichts einzuwenden.
    »Das ist furchtbar nett«, sagte er daraufhin, »wenn es Ihnen wirklich nichts ausmacht, nehme ich Ihr Angebot gerne an.«
    »Gar kein Problem. Kommen Sie, ich zeige Ihnen, wo Sie heute Nacht schlafen.« Jonathan lächelte. Ein wunderbarer Abend lag vor ihm, an dem er seinen Gast in Ruhe beobachten

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