Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
Vom Netzwerk:
Wahnsinns zu treiben. Die älteren und zugleich schlechtesten Mitglieder der Fakultät hatten nur aufgrund des Bildes überlebt, das sie von sich selbst hatten - die größte Koryphäe für das Jahr 100 v. Chr. und so weiter -, und sobald diese Einschätzung vom Dekan infrage gestellt wurde, schwand ihr Selbstvertrauen. Es dauerte nur wenige Jahre, und beinahe alle hatten sich in den Ruhestand versetzen lassen. Was waren das für aufregende Zeiten! Doch dann übernahm Pierce Roberts den wichtigen Posten an der University of Michigan, und Haines, der neue Rektor, machte deutlich, dass er sich Coleman nicht besonders verpflichtet fühlte - im Gegensatz zu seinem Vorgänger zeigte er keine übermäßigen Sympathien für jene Art von autokratischer Selbstüberhebung und brutaler Arroganz, die das College in so kurzer Zeit derart gründlich von Altlasten befreit hatte -, und da die jungen Leute, die Coleman übernommen oder angeworben hatte, ihrerseits langsam zu akademischen Veteranen wurden, bekam Dekan Silk wachsenden Widerstand zu spüren. Wie stark dieser Widerstand war, wurde ihm erst bewusst, als er zählte, wie viele Leute in den verschiedenen Fachbereichen saßen, die ganz und gar nichts dagegen zu haben schienen, dass das Wort, mit dem der ehemalige Dekan seine scheinbar nicht existenten Studenten charakterisiert hatte, nicht nur durch die lexikalische Hauptbedeutung definiert war, die, wie er behauptete, ganz offensichtlich die von ihm beabsichtigte gewesen war, sondern darüber hinaus auch eine pejorative Bedeutung besaß, welche die beiden schwarzen Studenten zu ihrer Beschwerde veranlasst hatte.
    Ich kann mich sehr gut an den Apriltag vor zwei Jahren erinnern, an dem Iris Silk starb und Coleman seinem Wahnsinn verfiel. Bis dahin hatte ich von den Silks und ihren Lebensumständen nicht viel gewusst; wir hatten uns lediglich hin und wieder zugenickt, wenn unsere Wege sich im Lebensmittelladen oder im Postamt gekreuzt hatten. Mir war nicht einmal bekannt gewesen, dass Coleman in dem winzigen Städtchen Fast Orange in Essex County, New Jersey, aufgewachsen war, sieben oder acht Kilometer von meinem Elternhaus entfernt, und dass er den Highschoolabschluss 1944 an der East Orange High gemacht hatte, gut sechs Jahre vor mir, der ich im benachbarten Newark zur Schule gegangen war. Er hatte sich nicht bemüht, meine Bekanntschaft zu machen, und ich war nicht von New York in ein Zweizimmerhäuschen weit oben in den Berkshires, am Rande eines Feldes, an dessen anderem Ende ein Wirtschaftsweg vorbeiführte, gezogen, um neue Leute kennenzulernen oder aktiv am Leben in einer Kleinstadt teilzunehmen. Ich hatte mich 1993 hier niedergelassen und in den ersten Monaten einige Einladungen erhalten - zum Abendessen, zum Tee, zu einer Cocktailparty, zu einem Ausflug in das College unten im Tal, wo ich einen Vortrag oder, falls mir das lieber war, eine Gastvorlesung für Literaturstudenten hätte halten sollen -, die ich allesamt höflich abgelehnt hatte, und von da an wurde ich sowohl von meinen Nachbarn als auch vom College in Ruhe gelassen, sodass ich ungestört leben und arbeiten konnte.
    Doch an jenem Nachmittag vor zwei Jahren tauchte Coleman, der geradewegs von dem Bestattungsunternehmen kam, wo er die Einzelheiten von Iris' Beerdigung besprochen hatte, vor meinem Haus auf, klopfte an die Tür und bat um Einlass. Obgleich er eine dringende Bitte an mich hatte, konnte er keine halbe Minute still sitzen und darlegen, um was es sich handelte. Er stand auf, setzte sich wieder, stand abermals auf, ging in meinem Arbeitszimmer auf und ab, sprach laut und hastig und schüttelte sogar drohend die Faust, wenn er - irrtümlich - glaubte, einen Punkt besonders unterstreichen zu müssen. Ich sollte etwas für ihn schreiben - es fehlte nicht viel und er hätte es mir befohlen. Wenn er selbst diese Geschichte in ihrer ganzen Absurdität aufschriebe, ohne irgendetwas zu ändern, würde sie niemand glauben, würde sie niemand ernst nehmen. Man würde sagen, es sei eine lächerliche Lüge, eine zweckdienliche Übertreibung, man würde sagen, hinter seinem tiefen Sturz müsse etwas anderes stecken als die Erwähnung von »dunklen Gestalten« in einer Seminarsitzung. Wenn dagegen ich, ein anerkannter Schriftsteller, mich der Sache annähme ...
    Er hatte alle Zurückhaltung aufgegeben, und während ich ihm - einem mir unbekannten, jedoch offenbar kultivierten und einflussreichen Mann, der sein inneres Gleichgewicht vollkommen verloren hatte -

Weitere Kostenlose Bücher