Der menschliche Makel
›Mädchen‹ und ist im Neugriechischen zu kori, ›Tochter‹, geworden. Und dieses Mädchen begehrt Agamemnon weit mehr als seine Frau Klytämnestra. ›Da ich höher wie Klytaimnestra sie achte‹, sagt er, ›denn nicht ist jene geringer, weder an Bildung und Wuchs, noch an Geist und künstlicher Arbeit.‹ Daraus wird schon mal deutlich, warum er das Mädchen nicht hergeben will. Als Achilleus verlangt, er solle das Mädchen zu seinem Vater zurückkehren lassen, um den Gott Apollon, der über die Umstände der Entführung mordswütend ist, zu versöhnen, weigert Agamemnon sich: Er wird das Mädchen nur freigeben, wenn Achilleus ihm dafür sein Mädchen überlässt. Und damit macht er natürlich Achilleus wütend. Achilleus nach dem Adrenalinstoß: der explosivste Wilde Mann, den je ein Autor das Vergnügen hatte zu schildern, die - besonders wenn es um sein Prestige und seine Gelüste geht - empfindlichste Tötungsmaschine in der Geschichte der Kriegführung. Der gefeierte Achilleus, vor den Kopf gestoßen und seinen Kameraden entfremdet durch einen Angriff auf seine Ehre. Der große, heldenhafte Achilleus, der sich durch das Ausmaß seiner Wut über eine Beleidigung isoliert - die darin besteht, dass er das Mädchen nicht bekommt -, der sich trotzig außerhalb der Gesellschaft stellt, deren ruhmreicher Beschützer er doch ist und die ihn dringend braucht. Ein Streit also, ein brutal ausgetragener Streit um ein junges Mädchen und seinen jungen Körper und die Freuden sexueller Gier. Dort, in dieser Verletzung des phallischen Anspruchs, der phallischen Würde eines überragend starken Kriegerfürsten, beginnt die Dichtkunst, die große Literatur Europas, ob es uns passt oder nicht, und aus diesem Grunde werden wir heute, beinahe dreitausend Jahre später, ebenfalls dort beginnen ...«
Als Coleman seinen Lehrauftrag erhielt, war er einer von wenigen Juden, die am Athena College unterrichteten, und vielleicht einer der ersten Juden in Amerika, die klassische Literatur lehren durften; ein paar Jahre zuvor war der einzige Jude in Athena jener fast vergessene Kurzgeschichtenautor E. I. Lonoff gewesen, dem ich damals, als ich selbst noch ein eben erst publizierter Anfänger voller Selbstzweifel war, der die Bestätigung durch einen Meister brauchte, einen denkwürdigen Besuch abgestattet hatte. Von den späten siebziger bis in die frühen neunziger Jahre war Coleman auch der erste und einzige Jude, der in Athena je Dekan geworden war. Nachdem er 1995 sein Amt niedergelegt hatte, um seine akademische Laufbahn mit einer Lehrtätigkeit abzuschließen, nahm er zwei seiner alten Kurse wieder auf, und zwar in dem von Professorin Delphine Roux geleiteten Fachbereich für Sprache und Literatur, in dem die Abteilung für klassische Literatur aufgegangen war. Als Dekan hatte Coleman ein verstaubtes Provinzcollege übernommen und mit voller Rückendeckung durch den ehrgeizigen neuen Rektor und nicht ohne Rigorosität dem geruhsamen Leben der Dozenten ein Ende bereitet, indem er das Totholz in der alten Garde dazu aufforderte, um vorzeitige Pensionierung nachzusuchen, ehrgeizige junge Dozenten einstellte und den Lehrplan von Grund auf erneuerte. Hätte er sich ohne Zwischenfall rechtzeitig zur Ruhe gesetzt, so hätte man ihn zweifellos mit einer Festschrift geehrt und eine Coleman-Silk-Vorlesungsreihe sowie einen Coleman-Silk-Lehrstuhl für klassische Literatur eingerichtet, und angesichts seiner Verdienste um die überfällige Revitalisierung des Colleges hätte man nach seinem Tod vielleicht das alte Gebäude, in dem die geisteswissenschaftlichen Institute untergebracht waren, oder sogar das Wahrzeichen des Colleges, die North Hall, nach ihm benannt. In der kleinen akademischen Welt, in der er den größten Teil seines Lebens verbracht hatte, wäre er dann längst nicht mehr verhasst oder umstritten oder gar gefürchtet, sondern vielmehr Gegenstand immerwährender Verehrung gewesen.
Mitten im zweiten Semester seiner wiederaufgenommenen Lehrtätigkeit als ordentlicher Professor sprach Coleman die belastenden Wörter aus, die schließlich bewirkten, dass er von sich aus jede Verbindung zum College abbrach, jene zwei belastenden von vielen Millionen Wörtern, die Coleman in all den Jahren des Lehrens und Verwaltens ausgesprochen hatte, jene Wörter, die nach seiner Einschätzung schließlich direkt zum Tod seiner Frau führten.
Das Seminar hatte vierzehn Teilnehmer. Um die Namen seiner Studenten zu lernen, ging Coleman
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