Der menschliche Makel
Stelle als Clintons »inkontinente Fleischeslust« bezeichnete - sei nicht der blutarme Vorgang eines bloßen Amtsenthebungsverfahrens, sondern vielmehr die mittelalterliche Vergeltung, die Kanonikus Abälard für seine heimliche Verführung und Heirat der jungfräulichen Heloise, einer Nichte seines Kapitelbruders Fulbert, von den messerschwingenden Kollegen ebenjenes Fulbert erfuhr. Im Gegensatz zu Khomeinis Fatwa, die Salman Rushdie zum Tode verurteilt hatte, war mit Buckleys wehmütigem Wunsch nach Ahndung durch Kastration jedoch kein finanzieller Anreiz für potenzielle Vollstrecker verbunden. Die Strenge, mit der dieses Urteil gesprochen wurde, war jedoch nicht geringer als die des Ayatollah, und sie gründete sich auf ebenso hehre Ideale.
In Amerika war es der Sommer, in dem der Brechreiz zurückkehrte, in dem die Witze, die Spekulationen, die Theorien, die Übertreibungen kein Ende nahmen, in dem man die moralische Verpflichtung, seine Kinder über die Tatsachen des Erwachsenenlebens aufzuklären, zugunsten des Wunsches aufgab, ihnen alle Illusionen zu lassen, es war der Sommer, in dem die Kleinlichkeit der Menschen schlichtweg überwältigend war, in dem eine Art Dämon auf die Nation losgelassen wurde und man sich in beiden Lagern fragte: »Warum sind wir eigentlich so verrückt?«, der Sommer, in dem Männer wie Frauen beim Aufwachen feststellten, dass sie im Schlaf, in einem Zustand weit jenseits von Neid und Abscheu, von Bill Clintons Unverfrorenheit geträumt hatten. Ich selbst träumte in diesem Sommer von einem gewaltigen Spruchband, das dadaistisch wie eine Christo-Verpackung von einem Ende des Weißen Hauses zum anderen gespannt war und auf dem stand: HIER LEBT EIN MENSCHLICHES WESEN. Es war der Sommer, in dem sich das Durcheinander, das Getümmel, das Chaos zum millionsten Mal als subtiler erwies als diese Ideologie oder jene Moral. Es war der Sommer, in dem jeder an den Penis des Präsidenten dachte und das Leben in all seiner schamlosen Schlüpfrigkeit Amerika wieder einmal in Verwirrung stürzte.
Samstags rief Coleman manchmal an und lud mich ein, ihn nach dem Abendessen auf seiner Seite des Hügels zu besuchen und Musik zu hören, Gin Rummy um einen Penny pro Punkt zu spielen oder bloß für ein paar Stunden in seinem Wohnzimmer zu sitzen, Cognac zu trinken und ihm zu helfen, diesen Abend zu überstehen, der für ihn immer der schlimmste der Woche war. In jenem Sommer 1998 lebte er seit fast zwei Jahren allein hier oben in dem großen, alten weißen Haus mit den Schindeln, in dem er und seine Frau Iris vier Kinder großgezogen hatten - seit jener Nacht, in der Iris einen Schlaganfall erlitten und innerhalb weniger Stunden gestorben war, während er selbst einen Kampf gegen das College geführt hatte, weil er von zwei Teilnehmern eines von ihm geleiteten Seminars des Rassismus bezichtigt worden war.
Coleman hatte damals beinahe sein ganzes akademisches Leben am Athena College verbracht. Er war ein kontaktfreudiger, scharfsinniger, gewandt überzeugender Großstadtmensch, teils Krieger, teils Vermittler, und weit entfernt vom Prototyp des pedantischen Latein- und Altgriechischprofessors (wie der lateinische und altgriechische Gesprächsklub bewies, den er in ketzerischer Absicht als junger Dozent gegründet hatte). Sein bewährter Grundkurs über die altgriechische Literatur in Übersetzungen, allgemein GHM (»Götter, Helden, Mythen«) genannt, war bei den Studenten beliebt, weil er, wie alles an Coleman, direkt, ungekünstelt und ganz unakademisch kraftvoll war. »Wollen Sie wissen, wie die europäische Literatur beginnt?«, fragte Coleman seine Studenten, nachdem er in der ersten Sitzung die Teilnehmerliste durchgegangen war. »Mit einem Streit. Die gesamte europäische Literatur beginnt mit einem Kampf.« Und dann nahm er die Ilias zur Hand und las ihnen die ersten Zeilen vor: ›»Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus ... Seit dem Tag, als erst durch bitteren Zank sich entzweiten Atreus' Sohn, der Herrscher des Volks, und der edle Achilleus‹ Und worum streiten sie sich, diese beiden gewaltigen, mächtigen Männer? Die Ursache ihres Streites ist so banal wie der einer Schlägerei in einer Bar: Es geht um eine Frau. Eigentlich ist es ein Mädchen. Ein Mädchen, das man dem Vater entführt hat. Ein Mädchen, das in einem Krieg verschleppt worden ist. Mia kouri wird sie in dem Epos genannt. Mia ist, wie im Neugriechischen, der unbestimmte Artikel ›ein‹; kouri bedeutet
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