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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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Angst (vor der Auslöschung) noch die Verzückung (über »You sigh, the song begins, You speak, and I hear violins«). Die Tränen wurden spontan vergossen, so erstaunt er vielleicht auch war, wie wenig Widerstand er Helen O'Connells und Bob Eberlys Wechselgesang in »Green Eyes« entgegenzusetzen hatte, sosehr er sich vielleicht auch wunderte, dass Jimmy und Tommy Dorsey ihn in einen verletzlichen alten Mann verwandeln konnten, der zu sein er nicht mehr erwartet hatte. »Aber lassen Sie mal irgendjemanden, der 1926 geboren ist, einen Samstagabend im Jahr 1998 zu Hause verbringen und Dick Haymes mit ›Those Little White Lies‹ hören«, sagte er. »Dann kann er mir nachher sagen, ob er vielleicht endlich die berühmte Lehre von der kathartischen Wirkung der griechischen Tragödie begriffen hat.«
    Als ich durch eine Fliegentür an der Seite des Hauses in die Küche trat, spülte Coleman gerade das Abendessengeschirr ab. Weil das Radio über der Spüle hing und das Wasser lief, weil der Apparat laut gestellt war und Coleman und der junge Frank Sinatra »Everything Happens to Me« sangen, hörte er mich nicht. Es war ein warmer Abend, und Coleman trug nur Jeans-Shorts und Slipper. Von hinten wirkte dieser Einundsiebzigjährige nicht älter als vierzig - schlank, fit und vierzig. Coleman war höchstens eins fünfundsiebzig groß und nicht besonders muskulös, doch er besaß eine Menge Kraft, und die Elastizität und der Schwung des Highschool-Sportlers waren noch zu erkennen, diese Schnelligkeit, dieser Tatendrang, den wir damals Pep nannten. Sein dicht gelocktes, kurz geschnittenes Haar war inzwischen fast weiß, und so wirkte er trotz der jungenhaften Stupsnase nicht ganz so jugendlich, wie wenn es noch dunkel gewesen wäre. Außerdem hatten sich zu beiden Seiten des Mundes tiefe Falten eingegraben, und aus dem Blick seiner grünlich braunen Augen sprachen seit Iris' Tod und seinem Rückzug vom College große, große Müdigkeit und seelische Erschöpfung. Coleman besaß das unwirkliche, fast puppenhaft gute Aussehen, das man bei alternden Schauspielern findet, deren Glanzzeit in ihrer Kindheit gelegen hat und denen das Bild des jugendlichen Stars unauslöschlich aufgedrückt ist.
    Alles in allem war er selbst in seinem Alter noch ein drahtiger, attraktiver Mann, vom Typ her einer jener Juden mit kleinen Nasen, deren Gesicht von der Kieferpartie bestimmt wird, einer jener kraushaarigen Juden mit leicht gelblicher Pigmentierung, die ihnen etwas von der changierenden Aura heller Schwarzer verleiht, die manchmal als Weiße durchgehen können. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs hatte Coleman Silk als Matrose in der Marinebasis Norfolk in Virginia gedient. Sein Name verriet nicht, dass er Jude war - es hätte ebenso gut ein Negername sein können, und tatsächlich hatte man ihn einmal, in einem Bordell, für einen Nigger gehalten, der sich als Weißer ausgab, und in hohem Bogen hinausgeworfen. »Aus einem Puff in Norfolk haben sie mich als Schwarzen rausgeschmissen, und aus dem Athena College haben sie mich als Weißen rausgeschmissen.« In diesen letzten zwei Jahren hörte ich so etwas häufig von ihm: Tiraden über schwarzen Antisemitismus und seine treulosen, feigen Kollegen - Ausfälle, die offenbar in unveränderter Form als Hauptgedanken in sein Buch einflossen.
    »Man hat mich in Athena rausgeschmissen«, sagte er, »weil ich ein weißer Jude von der Sorte bin, die diese strohdummen Arschlöcher als Feind bezeichnen. Ich bin der, der an ihrem amerikanischen Elend schuld ist. Der sie aus dem Paradies hierhergeschafft hat. Und der sie die ganze Zeit unterdrückt hat. Wer trägt die meiste Verantwortung dafür, dass Schwarze auf diesem Planeten leiden? Sie wissen es, ohne ein einziges Mal an einem Seminar teilgenommen zu haben. Sie wissen es, ohne je ein Buch aufgeschlagen zu haben. Sie wissen, ohne zu lesen - sie wissen, ohne zu denken. Wer ist schuld? Dieselben bösen Monster aus dem Alten Testament, unter denen schon die Deutschen so zu leiden hatten.
    Sie haben sie umgebracht, Nathan. Und wer hätte gedacht, dass Iris damit nicht fertig werden würde? Aber so stark sie auch war, so laut sie auch war - Iris wurde damit nicht fertig. Deren Art von Dummheit war sogar für eine Verrückte wie meine Frau zu viel. ›Dunkle Gestalten.‹ Und wer ist aufgestanden, um mich zu verteidigen? Herb Keble? Als Dekan hab ich Herb Keble ans College geholt. Ein paar Monate nachdem ich angetreten war. Ich hab ihn geholt, und er war

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