Der menschliche Makel
geringste Verlangen zu haben, die Dinge richtigzustellen; da ihn der leidenschaftliche Wunsch, seine Ehre wiederherzustellen und seine Gegner als Mörder zu brandmarken, verlassen hatte, war er nicht mehr eingehüllt in das Gefühl, ihm sei Unrecht widerfahren. Mit Ausnahme von damals, als ich im Fernsehen sah, wie Nelson Mandela beim Verlassen des Gefängnisses, noch während die letzte magere Häftlingsmahlzeit von seinem Körper verarbeitet wurde, seinen Wärtern verzieh, hatte ich bei einem gequälten Menschen noch nie einen so raschen Sinneswandel gesehen. Ich verstand es nicht, und anfangs konnte ich es nicht glauben.
»Sie gehen einfach weg und sagen: ›Ich kriege das nicht hin‹, Sie lassen all diese Arbeit, all diesen Hass einfach liegen? Wie werden Sie die Kluft der Empörung schließen?«
»Ich werde sie nicht schließen.« Er nahm das Kartenspiel und einen Notizblock für die Spielstände, und wir zogen unsere Stühle zu einer Stelle des Tischs, wo kein Papier herumlag. Er mischte, ich hob ab, er teilte aus. Und dann, in diesem eigenartigen Zustand heiterer Zufriedenheit, in dem er sich befand, seit er sich anscheinend von dem Hass auf alle in Athena freigemacht hatte, die ihn absichtlich und wider besseres Wissen zu Unrecht verurteilt, missbraucht, beschmutzt und zwei Jahre lang in einen misanthropischen Furor von Swiftschen Dimensionen gestürzt hatten, begann er von den herrlichen vergangenen Zeiten zu schwärmen, da sein Kelch noch voll eingeschenkt ward und er sein erhebliches Talent zur Gewissenhaftigkeit verschwendete, um Lust zu bieten und zu finden.
Nun, da sein Hass ihn nicht mehr fesselte, würden wir also über Frauen sprechen. Dieser Coleman war mir tatsächlich neu. Vielleicht war es auch ein alter Coleman, der älteste erwachsene Coleman, den es gab, der zufriedenste Coleman, den es je gegeben hatte. Nicht der Coleman aus der Zeit vor den dunklen Gestalten, unbeschmutzt vom Vorwurf des Rassismus, sondern ein Coleman, den einzig und allein das Verlangen befleckte.
»Ich war gerade raus aus der Navy und hatte mir eine Wohnung im Village genommen«, erzählte er und ordnete seine Karten, »und ich brauchte bloß runter zur U-Bahn zu gehen. Es war wie Angeln. Man geht runter zur U-Bahn und kommt mit einem Mädchen wieder rauf. Und dann« - er hielt inne und nahm meine abgelegten Karten auf - »machte ich auf einmal meinen Abschluss, war verheiratet, suchte mir einen Job, kriegte Kinder, und da war's dann vorbei mit dem Angeln.«
»Und Sie haben nie wieder geangelt.«
»Fast nie. Stimmt. Praktisch nie. So gut wie nie. Hören Sie diese Songs?« Die vier Radios im Haus waren allesamt eingeschaltet, selbst auf der Zufahrtsstraße musste man die Musik hören. »Das waren die Songs nach dem Krieg«, sagte er. »Vier, fünf Jahre lang diese Songs, diese Mädchen - alle meine Ideale waren Wirklichkeit geworden. Ich hab heute einen Brief gefunden. Ich hab das Dunkle-Gestalten-Zeug aufgeräumt und einen Brief von einem dieser Mädchen gefunden. Von dem Mädchen. Als ich damals meine erste Anstellung hatte, auf Long Island, draußen bei Adelphi, und Iris mit Jeff schwanger war, kriegte ich eines Tages diesen Brief. Von einem Mädchen, das fast eins achtzig groß war. Iris war auch groß, aber nicht wie Steena. Iris war kräftig, Steena war anders. Steena hat mir 1954 diesen Brief geschrieben, und heute, beim Aufräumen, hab ich ihn wiedergefunden.«
Coleman zog den Umschlag mit Steenas Brief aus der hinteren Tasche seiner Shorts. Er trug noch immer kein T-Shirt, worüber ich mich nun, da wir aus der Küche auf die Veranda umgezogen waren, wunderte: Es war eine laue Julinacht, doch so lau nun auch wieder nicht. Ich hatte ihn nie als einen Mann eingeschätzt, dessen beträchtliche Eitelkeit sich auch auf sein Äußeres erstreckte, aber jetzt schien hinter dieser Zurschaustellung sonnengebräunter Haut doch mehr zu stecken als bloße Ungezwungenheit. Zu sehen waren die Schultern, die Arme und die Brust eines eher kleinen, immer noch drahtigen und attraktiven Mannes, dessen Bauch gewiss nicht mehr ganz flach, aber keinesfalls ernsthaft außer Kontrolle geraten war. Insgesamt hatte er die Statur eines Mannes, der beim Sport kein übermächtiger, aber ein zäher und gerissener Gegner gewesen war. All dies war mir bisher verborgen geblieben, zum einen, weil er immer ein Hemd getragen hatte, zum anderen, weil der Hass ihn so verzehrt hatte.
Auch die kleine, popeyehafte blaue Tätowierung auf dem rechten
Weitere Kostenlose Bücher