Der Moderne Knigge
finden, daß der Wein knapp sei, so freue man sich. Denn nicht nur ist der Kater am anderen Morgen eine große Last, sondern bei scharfem Trinken kommt man leicht in die Lage, über alte Anekdoten zu lachen, die von einem beliebten Gast erzählt werden, und von solchem Lachen bis zum Selbsterzählen ähnlicher antiquarischer Scherze ist nur ein Schritt, und beides ist ein Beweis dafür, daß man an einem empfindlichen Mangel eigenen Witzes leidet.
Es kommt auf Bällen vor, daß irgend ein junger Mann dem Klavierspieler die Tasten entreißen und sich zum
Gesang
begleiten läßt. Dies ist für Nervöse und Kluge das Signal zur Flucht. Sie gehen dann in die Räume, wo sich Skatspieler, Bier und Cigarren vorfinden, und versäumen mit Vergnügen mehrere Lieder und Arien, welche sie schon bedeutend schlechter haben singen hören, obschon man sie wohl kaum bedeutend schlechter hat singen hören können. Dasselbe gilt auch meist von den Liedern und Arien, welche von den Primadonnen der Familie vorgetragen werden. Man kann sich also auch diesen entziehen, besonders wenn man von dem Glück, das ohne Reu ist, und von Vorfällen wie einst im Mai bereits seit Jahren unterrichtet ist. Auch kennt wohl schon jeder den weltberühmten Hymnus auf den Wiener Fiaker auswendig, auf den Droschkenkutscher, welcher, ein echtes Wiener Kind, mit seinem Zeugl am Graben hält, die Fahrgäste übers Ohr haut und dem Fremden den Aufenthalt in der liebenswürdigen Kaiserstadt so ungemein verleidet. Auch das Lied, welches einen Einblick in das, was kein Goethe geschrieben und kein Schiller gemacht hat, gerne verschafft, dürfte bereits von jedem Ballgast vom Blatt gepfiffen und kann also ohne Schaden versäumt werden. Aber selbst wenn die Ballgeber Sängerinnen und Sänger von Beruf für die Ballpause gewonnen haben, kann man sich getrost in einen Raum begeben, in welchen ihr Gesang nur dann dringt, wenn die Thür unvorsichtig weit geöffnet wird. Denn ihr Repertoire ist gleichfalls aus höchst bekannten Nummern zusammengesetzt, und was sie dem holden Abendstern zu sagen und über die im Zigeunerstamm übliche Art zu lieben warnend zu bemerken haben, ist bereits in die Ohren aller Schichten der Bevölkerung eingedrungen. Tritt aber trotzdem der ungeheuer sensationelle Fall ein, daß einmal eine neue Gesangsnummer vorgetragen wird, die man also nicht hören würde, so ist dieser Verlust doch gewöhnlich sehr rasch verschmerzt, ganz abgesehen davon, daß man ihr in der nächsten Woche ohne Zweifel wieder begegnet.
Ganz dasselbe gilt von den Vorträgen derjenigen
Gäste, welche ein Instrument spielen.
Ich ziehe sie aber allen vor, denen, um mich gebildet auszudrücken, Apoll der Lieder süßen Mund geschenkt hat, denn diese musikalischen Herrschaften brauchen nur ihren süßen Mund in die gesellschaftlichen Veranstaltungen mitzunehmen, um etwas vorzutragen, während der Instrumental-Virtuose nicht immer sein Instrument bei sich haben kann. Eine Ausnahme machen nur die Pianistin und der Pianist, da sich ein Klavier selbst in solchen Häusern findet, an deren Wänden Stuck fehlt, jeder andere Virtuos muß besonders ersucht werden, Geige, Cello oder Flöte mitzubringen, was aber dadurch erschwert wird, daß damit meist eine Aussicht auf Honorar eröffnet zu sein pflegt. Musiker, deren Instrumente
eo ipso
ausgeschlossen sind, habe ich besonders lieb. Ich nenne den Kontrebaßspieler, den Bombardonbläser, den Pauken-, Trommel- und Beckenschläger, sowie den Fagottisten.
Unter den Musikern sind solche, welche dem Gast, welcher aus irgend einem Grunde nicht davonzukommen wußte, sehr schroff entgegentreten, wenn er es wagen sollte, während des Spiels einige Worte zu einer Nachbarin oder zu einem Nachbar zu sprechen. Der animierte Gast ist nur zu leicht verführt, zu glauben, daß er zu seinem Vergnügen anwesend sei, was ja gewöhnlich auf Täuschung beruht, und nun nimmt er an, es gehöre dazu auch eine gewisse Freiheit in der Bewegung, namentlich aber die Unmöglichkeit jeder Tyrannei. Der Musiker wird, wenn er ein peinlich tiefes Schweigen verlangt, einen Bruch desselben nicht sofort rügen, aber er wird doch den Gast, wenn er ihm wieder begegnet, mit Vorwürfen überschütten und ihm strenge sagen, wie er sich bei dem nächsten Wiegenlied oder Trauermarsch zu verhalten habe. Das ist nicht angenehm. Zur Vermeidung einer solchen peinlichen Belehrung möchte ich mir erlauben, allen Mitschuldigen die Form zu schildern, in welcher ich vor einiger Zeit
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