Der Moderne Knigge
den Angriff eines verstimmten und belehrenden Künstlers abgewehrt habe.
An nichts Böses und somit auch nicht an Tischmusik denkend, flanierte ich Unter den Linden, als ein Musiker auf mich zutrat, dessen ersten Worten ich sofort anmerkte, daß er sich zu einem Hühnchenpflücken anschickte. Ich nahm also das Wort: »Mein lieber Freund, vor einigen Tagen war ich in einer Gesellschaft, in welcher ich nach einem langen und sehr ermüdenden Diner das Glück hatte, einen mir sehr lieben Kollegen mit seiner Tochter, einer jungen, sehr schönen und geistvollen Dame, zu treffen. Eine heitere Unterhaltung entspann sich, aber sie war eben im besten Entspinnen, als Sie anfingen, fortwährend ziemlich laut Klavier dazwischen zu spielen, so daß wir kaum unser eigenes Wort zu hören vermochten. Das finde ich doch, um einen ganz milden Ausdruck zu wählen, nicht nett von Ihnen. Unsere Plauderei war wirklich interessant, aber gerade bei Gelegenheit der feinsten Pointen wurden wir durch Ihr Spielen gestört. Sie sahen uns scharf an, ich merkte es wohl. Sie können also nicht zu Ihrer Entschuldigung behaupten, Sie hätten nicht gewußt, daß wir uns vortrefflich unterhielten, wie Sie es unserer lebhaften Art zu sprechen anmerken mußten. Ich kann Ihnen auch nebenbei versichern, daß der Gegenstand unseres Gedankenaustauschs ein mindestens so erfreulicher war wie der berühmte
Danse macabre
, mit dem Sie uns fortgesetzt unterbrachen. Während einer lebhaften Unterhaltung sollte überhaupt nicht Klavier gespielt werden. Das ist höchst unpassend, und ein gebildeter Pianist wird sich auch nicht so ungehörig benehmen. Mein Gott, wenn man Klavier spielen will, so braucht man sich doch nicht gerade den Saal, in dem geplaudert wird, dazu auszusuchen, man unterläßt es entweder, oder geht, wenn man die Tasten nicht halten kann, bescheiden in einen anderen Raum des Hauses und spielt sich dort aus. Es ist merkwürdig, daß gerade die Musiker so rücksichtslos zu sein pflegen und immer, wenn sich die Gesellschaft eben zum Plaudern niedergesetzt hat, dazwischen musizieren. Wie würde es Ihnen gefallen, wenn ich, während Sie mit einem alten Freunde etwas besprechen, plötzlich die Trommel rührte oder ins Waldhorn stieße!«
Man muß nicht glauben, daß ich diese Rede ohne Unterbrechung hielt. Im Gegenteil, mein Musiker versuchte, in jeder zweiten oder dritten Zeile mit einem »Erlauben Sie« zu Wort zu kommen, um mir, wie ursprünglich beabsichtigt war, die bittersten Vorwürfe darüber zu machen, daß ich es gewagt hatte, während seines musikalischen Vortrags mit einem interessanten Menschenpaar zu plaudern. Man thäte gut, gegen derlei anmaßende Künstler allgemein in meiner Weise vorzugehen und so die Gleichberechtigung aller Gäste zu wahren. Dann wird die Unterhaltung der Gäste wenigstens nicht häufiger von den Musikern, als die Musik von der Unterhaltung gestört werden.
Ziemlich mühelos, dagegen sehr dankbar ist die Kunst, auf einem Ball interessant zu erscheinen. Man stehe in einer Ecke und sei stumm. Das wird im allgemeinen für Philosophie oder unglückliche Liebe, häufig wohl auch für beides gehalten. Wird man aber zum Reden gezwungen, so erkläre man alle durchgefallenen Stücke für Meisterwerke und behaupte auch sonst immer das Gegenteil von dem, was allgemein, namentlich von Gebildeteren, gesagt wird. Man wird infolgedessen sehr bald als Charakter gelten, aber man entferne sich dann ziemlich früh, besonders wenn eigentlich nichts mehr kommen kann. Denn der Balltitel-Charakter hat keine rechte Festigkeit und wird nur zu leicht in Hansnarr oder dergleichen umgewandelt.
Wenn man das Unglück hat, einer Dame den Saum des Kleides abzutreten, so sei man nicht untröstlich. Das wird ja doch nicht geglaubt. Sagt aber die betreffende Dame mit bezauberndem Lächeln: »O bitte, das macht nichts, das ist rasch repariert«, so meint sie: Sie sind ein ganz gemeingefährlicher Tölpel!
Man rede eine Dame nicht an, während sie ihren Fächer graziös vor dem Gesicht hält, so daß man nur ihre Augen sieht. Sie gähnt nämlich in diesem Augenblick. Auf Bällen ist Gähnen eines der unveräußerlichsten Menschenrechte, und ihm verdankt der Fächer einen großen Teil seiner Existenz. Gäbe es eine wirkliche Fächersprache, so würde dies noch deutlicher ausgesprochen werden.
Man mache einer schönen Frau keine Komplimente, denn sie wird doch immer behaupten, daß man ihr nichts neues sagt. Sie hat schon alles gehört. Läßt sie
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