Der Mord des Jahrhunderts - Collins, P: Mord des Jahrhunderts
im Gefängnis mit Handarbeiten verbrachte, war jede einzelne Zeitungsseite pures Nervengift. Es war nicht nur der Comic im Evening Telegram , in dem die Enten aus Woodside riefen: »Einmal mehr gehört die
Stadt uns!« Es war vielmehr, dass das Leben draußen – Weihnachten, das herannahende neue Jahr – an ihr vorbeizog. In einer Weihnachtswerbung der World wurde Professor Röntgens neue Entdeckung verulkt – Stellen Sie sich vor, der Weihnachtsmann wirft mit Röntgenstrahlen –, mitsamt einer Illustration des fröhlichen alten Mannes, wie er die Fassade von Bloomingdale’s in der Third Avenue bestrahlte, um die Fülle von Spielwaren dahinter zu enthüllen. Neben den üblichen Schlagzeilen des Herald wie FEUER IN EINER STREICHHOLZFABRIK lockte die Zukunft mit dem Vorschlag, Straßenbahnen mit Fahrradträgern auszustatten, sowie der verheißenden Meldung, dass ein exzentrischer britischer Wissenschaftler einen Fotoapparat zur Ablichtung des Gehirns entwickelt hatte: GEDANKEN IN BILDERN, hieß es dort. Das Journal hatte sich für die Weihnachtsferien etwas ganz Besonderes einfallen lassen und einen neuen Wettbewerb ins Leben gerufen: den Prophezeiungspreis, bei dem die Leser aufgerufen waren, in der Redaktion vorbeizukommen, um ihre Vorhersagen für das Jahr 1898 in riesige angekettete Kästen in der Eingangshalle zu werfen. Ref 885 Ref 886 Ref 887 Ref 888 Ref 889
»Vielleicht wird Königin Victoria bis Ende 1898 sanft entschlafen sein«, lautete ein hilfreicher Vorschlag der Redakteure auf der Titelseite. »Das Problem der Luftfahrt könnte gelöst sein, Amerika könnte Kuba annektiert haben, in Europa könnte ein großer Krieg ausbrechen.«
Wenn die Kästen in einem Jahr geöffnet würden, würde der Leser mit der besten Voraussage 1000 Dollar gewinnen. Was allerdings Martin Thorn betraf, so war dessen Schicksal zu absehbar, um dafür einen Preis zu gewinnen.
»Armer Martin«, sagte Gussie seufzend. Sie konnte ihm nicht helfen; und die Papierblumen und Bänder, die bergeweise auf dem Tisch in ihrer Zelle lagen, wären auch kein Trost für den Mann. Ref 890
Plötzlich hatte sie eine Idee, und ihre Miene hellte sich auf. »Ich kann ihm vielleicht keine fröhlichen Weihnachten wünschen, aber ich kann ihm gute Weihnachten wünschen.« Eilig schrieb sie eine Nachricht auf ein Stück Papier, dann grübelte sie über einer zweiten Idee. »Und ich möchte ihm einen Obstkorb schicken. Meinen Sie, das darf ich? … Und wie bekommt er ihn?«
»Ich werde mich darum kümmern, dass er ihn bekommt«, versicherte ihr die Reporterin des Journal . »Und sollte er eine Antwort schreiben, werde ich sie Ihnen …«
»Es wird keine Antwort geben«, fiel Mrs Nack ihr ins Wort.
»Vielleicht ja doch.«
Mrs Nack schüttelte langsam den Kopf.
»Ich kenne ihn besser als Sie«, sagte sie.
Die Reporterin kaufte bei einem Obsthändler am Grand Central Depot einen Korb mit Äpfeln, Bananen und Trauben, dann stieg sie schnurstracks in den nächsten Zug nach Sing-Sing. Dort angekommen gewährte ihr der Gefängnisdirektor widerwillig Zutritt zum Zellenblock, bestand jedoch darauf, die Nachricht und den Korb selbst zu übergeben.
»Martin«, rief er in die Zelle. »Hier ist eine Nachricht von Mrs Nack. Ein Weihnachtsgruß.«
Er hielt ihm den Umschlag hin, und der Gefangene erschien an der Tür, um ihn entgegenzunehmen. Er trug nicht den gestreiften Anzug gewöhnlicher Sträflinge; stattdessen trug er die rein schwarze Kleidung eines Todeskandidaten. Die Reporterin sah zu, wie seine Augen über die Buchstaben flogen.
Lieber Martin,
es ist Weihnachten. Ich schicke dir Grüße in deine
einsame Zelle in Sing-Sing. Ich habe meinen inneren
Frieden gefunden, seit ich meinen Fall ganz in Gottes
Hand gelegt habe. Lass mich dir sagen, Martin, dass
ich dir kein schöneres Geschenk schicken kann, als dass
du den Herrn suchst, solange er dir Zeit dazu gibt.
Martin, du bist rechtskräftig zum Tode verurteilt, du
musst sterben…
Seine Hände begannen, das Blatt zu zerreißen.
… Finde Frieden, bevor du gehst – dann fürchtest du nicht, was Menschen dir tun können.
Augusta Nack
Thorn warf die Papierfetzen auf den Boden.
Unbeeindruckt streckte ihm der Direktor den anderen Arm entgegen.
»Und Obst von ihr«, fügte er hinzu.
Der Gefangene zögerte einen Moment, dann zuckte er gleichgültig mit den Schultern und nahm den Korb entgegen.
»Irgendeine Antwort?«, rief die Reporterin vom Gang.
Thorn öffnete kurz den Mund, als
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