Der Mord zum Sonnntag
in die Nesseln
gesetzt, wie Willy das ausdrückte. Sie war
dahintergekommen, was wirklich vor sich ging, und wäre
deshalb um ein Haar ermordet worden. Trotzdem hatte sie
die ganze Aufregung genossen, und jetzt verband sie mit
allen dort eine herzliche Freundschaft, und sie konnte
jedes Jahr als Gast nach Cypress Point kommen. Und als
Dank für ihre Hilfe bei der Aufklärung des Mordes auf
dem Schiff im vorigen Jahr waren sie beide zu einer
kostenlosen Kreuzfahrt nach Alaska eingeladen, wann
immer sie wollten.
Cape Cod war wunderschön, doch Alvirah wurde den
schleichenden Verdacht nicht los, daß dies zu einem ganz
normalen Urlaub geraten könnte und daher völlig
ungeeignet für eine Veröffentlichung im Globe wäre.
Genau in diesem Augenblick schaute sie hinüber zu der
Hecke, die ihr Grundstück auf der rechten Seite einzäunte,
und bemerkte eine junge Frau, die nebenan am Geländer
ihrer Veranda stand und düster auf die Bucht
hinunterstarrte.
Es war die Art, wie ihre Hände das Geländer
umklammerten – hochgradige Anspannung, dachte
Alvirah. Sie vibriert ja förmlich. Es war die Art, wie die
junge Frau den Kopf wandte, Alvirah direkt in die Augen
sah, sich dann wieder wegdrehte. Sie hat mich nicht mal
wahrgenommen, befand Alvirah. Obwohl die Entfernung
zwischen ihnen fünfzehn bis zwanzig Meter betrug, spürte
sie den Schmerz und die Verzweiflung, die von der jungen
Frau ausstrahlten.
Höchste Zeit, in Erfahrung zu bringen, was da los war.
«Ich glaube, ich mach’ mich mal eben mit unserer
Nachbarin bekannt», teilte sie Willy mit. «Bei der ist
irgendwas im Busch.» Sie erhob sich und schlenderte zu
der Hecke hinüber. «Hallo», begann sie mit äußerster
Wärme. «Ich hab’ Sie reinfahren sehen. Wir sind vor zwei
Stunden angekommen, da ist es ja wohl an uns, Sie hier zu
begrüßen. Ich bin Alvirah Meehan.»
Die junge Frau drehte sich um, und Alvirah empfand
sofort tiefes Mitgefühl. Sie muß eine schwere Krankheit
hinter sich haben, dachte sie. Diese geisterhafte Blässe, die
erschlafften Arm- und Beinmuskeln. «Ich bin
hergekommen, weil ich allein sein möchte, ich lege keinen
Wert auf Gesellschaft», erklärte sie ruhig. «Entschuldigen
Sie mich bitte.»
Damit hätte sich der Fall vermutlich erledigt, wie
Alvirah später feststellte, doch als sie auf dem Absatz
kehrtmachte, stolperte sie über einen Schemel und stürzte
auf die Veranda. Alvirah eilte ihr zu Hilfe und lehnte es
energisch ab, sie allein ins Haus gehen zu lassen. Und weil
sie sich für den Unfall mitverantwortlich fühlte, versorgte
sie das rasch anschwellende Handgelenk mit einer
Eispackung. Sie überzeugte sich, daß es nur verstaucht
war, kochte ihr eine Tasse Tee und erfuhr dabei, daß sie
Cynthia Rogers hieß, Lehrerin war und aus Illinois
stammte. Diese Mitteilung ließ Alvirah aufhorchen, dann
klingelte es bei ihr, und binnen zehn Minuten hatte sie die
neue Nachbarin erkannt, wie sie Willy berichtete, als sie
eine Stunde später zurückkam. «Von mir aus soll sie sich
Cynthia Rogers nennen, aber ihr richtiger Name ist
Cynthia Lathem. Vor zwölf Jahren ist sie wegen Mordes
an ihrem Stiefvater verurteilt worden. Der war stinkreich.
Ich erinnere mich an den Prozeß, als wär’s gestern
gewesen.»
«Du erinnerst dich an alles, als sei’s gestern passiert»,
kommentierte Willy.
«Stimmt auffallend. Du weißt doch genau, wie ich
solche Berichte über Mordfälle immer verschlinge. Die
Sache ist jedenfalls hier auf Cape Cod passiert. Cynthia
hat geschworen, sie wär unschuldig, und dauernd von
einer Zeugin gesprochen, die bestätigen könnte, daß sie
um die Tatzeit außer Haus war; aber die Geschworenen
haben ihr die Geschichte nicht abgenommen. Ich frag’
mich, warum sie zurückgekommen ist. Ich muß im Globe anrufen; Charley Evans soll mir alles herschicken, was sie
im Archiv darüber haben.»
Alvirahs Augen begannen zu blitzen und zu funkeln, als
sie fortfuhr:
«Vielleicht sucht sie immer noch nach der
verschwundenen Zeugin, die ihre Geschichte bestätigen
kann. Meine Güte, Willy, das wird ’ne aufregende Zeit,
ich spür’s in den Knochen!»
Zu Willys Schrecken holte Alvirah aus der obersten
Schublade der Frisierkommode die bewußte Brosche mit
dem eingebauten Mikrofon und machte sich dann
zielstrebig daran, ihren Chefredakteur in New York unter
seiner direkten Durchwahlnummer zu erreichen.
An jenem Abend aßen Willy und Alvirah im Red
Pheasant Inn. Alvira trug ein beige
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