Der Mord zum Sonnntag
Glück, daß ich gerade hier bin und ihr helfen kann?»
Willy ließ den Sportteil sinken. «Großer Gott»,
murmelte er wiederum.
Nach dem ausgiebigen ruhigen Nachtschlaf und dem
anschließenden Morgentraining begann sich die
Gefühlsstarre zu lösen, in der Cynthia seit dem
Schuldspruch der Geschworenen vor zwölf Jahren verharrt
hatte. Beim Duschen und Anziehen dachte sie über diese
Zeit nach, ein Alptraum, den sie nur dadurch überleben
konnte, daß sie ihre Emotionen quasi einfror. Sie war ein
musterhafter Häftling, hatte ganz für sich gelebt, keine
Freundschaften geschlossen. Sie hatte jede der
angebotenen Ausbildungsmöglichkeiten wahrgenommen,
zunächst in der Wäscherei und in der Küche gearbeitet
und war dann als Schreibkraft in der Bibliothek und als
Hilfslehrerin im Kunstunterricht eingesetzt worden. Und
als sie nach einer Weile das Geschehene voll zu realisieren
begann, hatte sie zu zeichnen angefangen. Das Gesicht der
Frau auf dem Parkplatz. Das Lokal. Neds Motorboot. Jede
Einzelheit, die sie ihrem Gedächtnis abringen konnte. Als
sie fertig war, hatte sie Bilder von einer Imbißstube, wie
man sie überall in den Vereinigten Staaten finden konnte,
von einem Boot, das genau dem in jenem Jahr auf den
Markt gebrachten Modell glich. Die Frau war ein wenig
deutlicher geraten, aber auch nicht nennenswert. Es war
dunkel gewesen, und die Begegnung hatte nur
sekundenlang gedauert. Trotzdem war die Frau ihre
einzige Hoffnung.
Das Resümee des Anklägers in der Schlußverhandlung:
«Meine Damen und Herren Geschworenen, Cynthia
Lathem kam am 2. August 1976 irgendwann zwischen
20.00 Uhr und 20.30 Uhr in das Haus von Stuart Richards
zurück. Sie ging ins Arbeitszimmer ihres Stiefvaters. An
jenem Nachmittag hatte Stuart Richards Cynthia
mitgeteilt, daß er sein Testament zu ändern gedenke. Ned
Creighton hatte dieses Gespräch mitgehört, hatte Cynthia
und Stuart streiten hören. Vera Smith, die Kellnerin im Captain’s Table, hörte Cynthias Äußerung Ned
gegenüber, daß sie die Hochschule verlassen müsse falls
ihr Stiefvater sich weigerte, weiter für ihr Studium
aufzukommen.
Cynthia Lathem kehrte an jenem Abend aufgebracht und
von Ängsten gequält in Richards Villa zurück. Sie ging ins
Arbeitszimmer und bot Stuart Richards die Stirn. Er
gehörte zu den Menschen, die sich ein Vergnügen daraus
machen, ihre Umgebung aus der Fassung zu bringen. Er
hatte sein Testament geändert. Er wäre am Leben
geblieben, wenn er seiner Stieftochter mitgeteilt hätte, daß
er ihr anstelle von ein paar tausend Dollar die Hälfte
seines Vermögens hinterlassen würde. Statt dessen spielte
er zu lange Katz und Maus mit ihr. Und ihr
aufgespeicherter Groll darüber, wie er ihre Mutter
behandelt hatte, die in ihr hochkochende Wut bei dem
Gedanken, die Universität verlassen zu müssen,
buchstäblich ohne einen Cent ins Leben gestoßen zu
werden, lenkten ihre Schritte zu dem Schrank, in dem er
eine Waffe aufbewahrte. Die nahm sie heraus und schoß
dreimal direkt in die Stirn des Mannes, der sie so liebte,
daß er sie als Erbin einsetzte.
Ironie des Schicksals. Eine Tragödie. Aber auch Mord.
Cynthia bat Net Creighton, auszusagen, sie habe den
Abend mit ihm auf seinem Motorboot verbracht. Kein
Mensch hat die beiden draußen auf dem Boot gesehen. Sie
erwähnt eine Imbißstube, bei der sie gehalten hätten, um
Hamburger zu kaufen. Aber sie weiß die Adresse nicht.
Sie gibt zu, die Lokalität nicht betreten zu haben. Sie redet
von einer Unbekannten mit orangerotem Haar, mit der sie
auf einem Parkplatz gesprochen habe. Warum hat sich
diese Frau nicht gemeldet, bei der enormen Publizität
dieses Falles? Sie kennen den Grund. Weil sie nicht
existiert. Weil sie, genau wie die Imbißstube und die auf
einem Motorboot in der Bucht von Cape Cod verbrachten
Stunden, ein reines Phantasieprodukt von Cynthia Lathem
ist.»
Cynthia hatte das Prozeßprotokoll so oft gelesen, daß sie
das Resümee des Staatsanwalts auswendig konnte. «Aber
die Frau hat existiert», sagte sie laut. «Es gibt sie.» Mit
Hilfe der bescheidenen Versicherungssumme, die ihr die
Mutter hinterlassen hatte, wollte sie in den nächsten sechs
Monaten versuchen, diese Frau ausfindig zu machen.
Vielleicht ist sie mittlerweile tot oder nach Kalifornien
verzogen, dachte Cynthia, als sie sich das Haar bürstete
und es zum Knoten drehte.
Vom Schlafzimmer des Hauses hatte man Aussicht aufs
Meer.
Cynthia ging zur
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