Der Mord zum Sonnntag
nach Jahren der Haft wie ein
Palast vorkam. Draußen peitschte der Wind die
aufschäumende Brandung in die Bucht. Cynthia trat
hinaus auf die Veranda, ohne sonderlich auf das pochende
Handgelenk zu achten, kreuzte die Arme über der Brust,
zum Schutz gegen die Kälte. Aber dann – frische, reine
Luft zu atmen, zu wissen, daß sie kein Mensch daran
hindern konnte, bei Tagesanbruch aufzustehen und am
Strand spazierenzugehen wie in ihrer Kindheit, wenn sie
Lust hatte. Der Mond, dreiviertelvoll, übergoß das Wasser
mit silbrigem mitternachtsblauem Schimmer; an den nicht
beschienenen Stellen wirkte es dunkel, unergründlich.
Cynthia blickte unverwandt aufs Meer, während sie an
die Nacht dachte, in der Stuart erschossen wurde. In jenem
Sommer hatte sie ein paar zusätzliche Kurse an der
Universität belegt, weil sie durch viel Arbeit über den
plötzlichen Tod ihrer Mutter vor drei Monaten
hinwegzukommen hoffte. Stuart hatte sie telefonisch über
das Wochenende eingeladen. «Ich war in Europa»,
erklärte er. «Deswegen hab’ ich’s eben erst erfahren. Es
tut mir so leid, Cindy.»
Sie war zu ihm gefahren, weil sie wußte, daß Stuart, bei
all seiner Schwierigkeit und Egozentrik, ihre Mutter auf
seine Weise geliebt hatte, und weil sie das Gefühl
brauchte, daß er an ihrem tiefen Schmerz ein wenig Anteil
nahm.
Stuart war damals um die Sechzig, gutaussehend –
weißes Haar, lebhafte blaue Augen, beeindruckendes
Profil, straffe Haltung. Ein erfolgreicher Geschäftsmann,
der aus einem bescheidenen Erbe zwanzig Millionen
Dollar gemacht hatte, ein Mann, der charmant sein konnte,
der aber mit seinen Wutausbrüchen Ehefrauen, Freunde
und Angestellte verscheuchte.
An jenem Wochenende war es trübe und bewölkt.
Stuarts Stimmung entsprach dem Wetter:
niedergeschlagen, in sich gekehrt. Seine Haushälterin habe
gekündigt, erzählte er, jetzt müsse er sich mit einer
Putzfrau behelfen, die vormittags nur ein paar Stunden
zum Saubermachen komme.
Am Freitag hatten sie im Wianno Country Club zu
Abend gegessen. Er wiederholte mehrmals, daß sie ihrer
Mutter immer ähnlicher werde. Er erkundigte sich
eingehend nach ihren Finanzen.
«Deine Mutter war im Umgang mit Geld immer sehr
großzügig. Ich wette, sie hat die Abfindung auf den Kopf
gehauen.»
So üppig war die Abfindung auch nicht gewesen.
Cynthia erinnerte sich an ihren rasch aufschießenden
Groll, als sie erwiderte:
«Du hast gesagt, es tut dir leid, sie nicht gehalten zu
haben. Da liegst du ganz richtig. Wenn du ihr nicht jeden
Cent vorgerechnet hättest, wäre sie nicht weggegangen.
Sie liebte dich immer noch, auch nachher.»
Die berüchtigte Zornesröte hatte Stuarts Gesicht
übergossen.
«Ich hab’ dich hierher eingeladen, weil ich mich
irgendwie für dich verantwortlich fühle, Schätzchen, und
weil ich mich mit dir über deine Zukunft unterhalten
wollte. Untersteh dich, an mir rumzumäkeln.»
In diesem Moment wurde ihr bewußt, daß jemand um
die Hausecke auf die rückwärtige Veranda zukam und sie
vermutlich belauscht hatte. Samstagnachmittag. Der
Anfang des Alptraums.
Stuart begrüßte den Ankömmling herzlich und machte
sie miteinander bekannt. Ned Creighton. «Ich kenne Ned
seit seiner Geburt», erklärte er. «Wie lang ist das jetzt her,
Ned?»
«Beinah dreißig Jahre.» Er lächelte zu Cynthia hinüber.
«Wir sind uns schon mal in einem Sommer begegnet,
Cynthia. Sie waren da ungefähr zehn. Seitdem haben Sie
sich ganz hübsch rausgemacht.»
Ein gewinnendes Lächeln …
Sie konnte sich zwar nicht erinnern, entschied aber
spontan, das müsse an einem jener seltenen Wochenenden
gewesen sein, zu denen Lillian erschienen war. Es
überraschte sie, daß sie Ned überhaupt kennengelernt
hatte, da Lillian sie aus Haß nie in irgend etwas einbezog.
Als Ned sie später zum Dinner und zu einer Fahrt in
seinem neuen Boot einlud, hatte Stuart darauf bestanden,
daß sie mitging. «Ich hab’ einen Haufen Schreibkram zu
erledigen. Dinge, die ich morgen mit dir besprechen
möchte. Geld. Und mein Testament, zum Beispiel.» Seine
Miene hatte sich verdüstert.
Sie und Ned hatten im Captain’s Table zu Abend
gegessen. Er war fröhlich und amüsant. «Ich fand, Sie
verdienen was Besseres, als ein Wochenende mit Stuart
ohne jede Unterbrechung zu verbringen. Der haut einen
doch glatt um, was? Als Kind hab’ ich aus lauter Angst
vor ihm nie den Mund aufgekriegt.» Lachfältchen um die
Augen, das sonnengebleichte Haar, das zu
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