Schnee in Venedig
Prolog
Venedig, Herbst 1849
«Es ist ein Wunder, dass sie noch lebt», sagte Dr. Falier zu dem grauhaarigen Priester auf der anderen Seite des Krankenbettes. Beide sahen sie auf das Mädchen herab, das mit geschlossenen Augen vor ihnen im Bett lag. Dr. Falier lehnte an der Fensterbank eines der sechs Fenster im Krankensaal für Frauen und Mädchen. Das Fenster stand eine Handbreit auf, und die Luft eines erstaunlich warmen Oktobertages strömte in den Saal. Dr. Falier hätte gerne ein paar Bäume vor den Fenstern gehabt, stattdessen sah er auf der anderen Seite des
Rio Ognissanti
eine graue Hausfassade, deren Putz abblätterte und vor der aufgehängte Wäsche im Wind flatterte. Das
Ospedale Ognissanti
hatte sich Dr. Faliers bescheidener Meinung zufolge zum besten Krankenhaus Venedigs entwickelt, seitdem er die ärztliche Leitung übernommen hatte – aber die Aussicht aus den Fenstern zum
Rio Ognissanti
hin, fand er, blieb grauenhaft.
Das Gesicht des Mädchens, in dem die Wangenknochen grotesk hervortraten, war bleicher als alles, was Dr. Falier jenseits des Grabes jemals gesehen hatte, und erinnerte ihn an eine noch unbemalte Karnevalsmaske. Ihre Atemzüge waren so flach, dass man sie auf den ersten Blick für tot halten konnte. Die Luft über ihrem Bett schien stillzustehen.
«Sie sieht aus wie …» Pater Abbondio – Dr. Falier war froh, dass ihm der Name des Priesters wieder eingefallen war – wusste offenbar nicht, wie der Satz weitergehen sollte, und beschränkte sich darauf, entsetzt den Kopf zu schütteln.
«Wie jemand, der seit zwei Wochen kaum Nahrung zu sich genommen hat und fast gestorben wäre», sagte Dr. Falier sachlich.
«War es richtig, dass wir sie nach Venedig gebracht haben?» Pater Abbondios Stimme klang besorgt.
Der Pater, dachte Dr. Falier, wäre ein gut aussehender Mann gewesen, wenn seine blauen Augen unter den buschigen Augenbrauen nicht außer Fasson geraten wären. Das linke Auge des Paters fokussierte nicht richtig. Dr. Falier hatte den Eindruck, dass nur das rechte Auge ihn ansah, während das linke zwischen dem Mädchen und dem Fußende des Bettes hin- und herpendelte.
Dr. Falier nickte. «Auf jeden Fall. Sie hätten ihre Wunden nicht versorgen können», sagte er. «Ich glaube nicht, dass der Transport im
sándalo
ihr geschadet hat.» Er schätzte, dass die Fahrt über die westliche Lagune mindestens vier Stunden gedauert haben musste.
«Ist sie wieder bei Bewusstsein?»
Dr. Falier lächelte matt. «Sie isst und trinkt ein wenig. Dafür braucht man nicht viel Bewusstsein.»
«Also hat sie nicht geredet.»
«Nein. Aber auch wenn sie reden könnte – es ist gut möglich, dass sie sich an nichts erinnert», sagte Dr. Falier. Das entsprach nicht ganz dem, was er dachte, aber er hatte seine Gründe zu schweigen. Er machte eine Pause, bevor er weitersprach. «Sie hatte Blutungen aus dem Unterleib. Es sieht fast so aus, als wäre sie …» Er hielt es für besser, das Wort nicht auszusprechen, zumal die Bestürzung in den Augen Pater Abbondios unübersehbar war. «Wie alt ist sie?», fragte Dr. Falier.
«Dreizehn.» Pater Abbondio kniff seine Mundwinkel bedrückt zusammen. «Sie stand kurz vor der Kommunion.»
«Weiß man inzwischen, was passiert ist?»
Pater Abbondio schüttelte den Kopf. «Es scheint keine Zeugen zu geben. Der Hof der Galottis», setzte er hinzu, «liegt außerhalb von Gambarare. Der Feldweg, der zum Hof führt, endet dort. Er ist praktisch eine Sackgasse.»
«Also hat niemand irgendetwas gesehen?»
«Dem Jungen, der sie gefunden hat, ist eine Militärpatrouille begegnet. Kroatische Jäger, die in Fusina stationiert sind. Die Soldaten kamen angeblich direkt vom Hof der Galottis. Ich weiß, dass an diesem Tag Patrouillen unterwegs waren. Sie durchkämmen die Gegend immer noch nach Aufständischen.»
«Hat man den kommandierenden Offizier befragt?»
Pater Abbondio zuckte mit den Schultern. «Die Carabinieri dürfen keine kaiserlichen Offiziere vernehmen.»
«Könnte es sein, dass der Vater des Mädchens jemanden versteckt hat?»
«Sie meinen, ob er ein Feind des Kaisers war?» Der Priester gestattete sich ein Lächeln. Seine Augenbrauen flatterten nach oben wie kleine Engelsflügel. «Die Leute in Gambarare interessieren sich nicht für Politik, Dottore. Sie interessieren sich für ihren Mais und ihr Gemüse. Wenn sie nachdenken, dann denken sie darüber nach, wie sie über den Winter kommen.»
«Und der
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