Der Nachtwandler
Gerichtssaal. Genauso hatten die Exemplare ausgesehen, die er im Haus seiner Pflegeeltern beim Schlafwandeln in den Ofen gestellt hatte, nur wenige Tage nach dem Einzug.
Ein spöttisches Lächeln umspielte die Lippen des Arztes. Sein Blick wanderte zu einer leeren Weinflasche auf der Anrichte neben dem Fenster.
»Haben Sie die alleine getrunken?«
»Ja, aber …«
»Die ganze Flasche?«
Leon seufzte und ärgerte sich, dass er sie noch nicht entsorgt hatte. »Meine Frau hatte sich verspätet. Ich hab die Flasche dann schon mal geöffnet und wohl das Maß verloren.«
»Und Sie können sich seitdem an nicht mehr viel erinnern, richtig? Sie wissen nicht, wie Sie sich ausgezogen haben und ins Bett geklettert sind. Sie haben nicht mitbekommen, wie Natalie nach Hause kam. Und vielleicht haben Sie auch vergessen, was Sie mit Ihren Turnschuhen angestellt haben?«
Leon schüttelte den Kopf. »Wieso sollte ich im Suff meine Schuhe in der Mikrowelle frittieren?«
»Wieso sollten Sie Ihre Frau schlagen?«
Dr. Volwarth sah auf die Uhr und wiederholte die Worte, die er eben auch in der Aufnahme gesagt hatte: »Ich bin mir sicher, für das alles gibt es eine harmlose Erklärung. Womöglich kam Natalie spät nach Hause, war wütend darüber, dass Sie betrunken waren, und ist für ein paar Tage zu ihrer besten Freundin gezogen.«
»Die hab ich längst angerufen.«
»Oder in ein Hotel. Ihre Beziehungsprobleme kamen doch nicht von heute auf morgen, habe ich recht?«
Leon nickte unbewusst.
»Ist es wegen des Abgangs?«
Die Frage traf Leon wie eine Ohrfeige.
»Woher wissen Sie von der Fehlgeburt?«, fragte er benommen.
»War ein Schuss ins Blaue. Sie sagten, Sie üben nun fast ein Jahr für den Nachwuchs. Ich sehe aber keine Babybücher, keine Kataloge für Wickelkommoden und Kinderwagen auf dem Couchtisch, nicht mal die flüchtigsten Anzeichen von Nestbildung.«
Leon nickte versonnen und fühlte sich eigenartig ertappt. Als sie den Zuschlag für ihre Traumwohnung erhielten, hatten sie es als gutes Omen für ihre Zukunft gewertet. Nach der Fehlgeburt hatte sich einiges geändert.
»Und wie läuft es beruflich?«, wollte Dr. Volwarth als Nächstes wissen.
»Natalie hat gerade eine Galerie mit ihrer besten Freundin eröffnet«, antwortete Leon, froh, das Thema wechseln zu können.
»Ich meinte, bei Ihnen.«
»Ach so, ja. Auch da ist eigentlich alles bestens.«
»Und uneigentlich?«
»Wir sind mitten in einer Ausschreibung für ein Großprojekt. Sven und ich …«
»Wer ist Sven?«
»Sven Berger, mein bester Freund und Miteigentümer des Architekturbüros. Er hat diesen gewaltigen Auftrag an Land gezogen. Ein Kinderkrankenhaus. Unsere ersten Entwürfe stießen auf große Resonanz, und wir haben gute Chancen, den Wettbewerb zu gewinnen. Ich muss nur noch einige Veränderungen vornehmen und spätestens Donnerstag das Modell abgeben.«
Wieder sah Volwarth auf die Uhr. »Das ist ja schon in wenigen Tagen. Sie stehen also nicht nur privat, sondern auch beruflich unter starkem Stress.«
Er stand auf.
»Ja, ich meine, nein. Das ist nicht das Problem.« Leon, der sich ebenfalls erhoben hatte, wusste, worauf der Psychiater hinauswollte. Er hatte schon vor dem Autounfall unter Schlafstörungen gelitten, aber danach waren sie schlimmer geworden. Erst als er mit den Naders eine fürsorgliche Familie gefunden hatte, hatte sein seelischer Druck nachgelassen. Sein Unterbewusstsein war zur Ruhe gekommen. Je stärker die Liebe zu seinen Pflegeeltern wurde, desto weniger Grund hatte er, in der Nacht vor seinen Ängsten davonzulaufen. So weit Volwarths Theorie, der damals fast ein wenig traurig gewirkt hatte, dass sich Leons gewalttätiger Ausbruch nach seinem Auszug bei den Molls nicht wiederholen wollte. Die Turnschuhe waren der letzte zerstörerische Vorfall gewesen, und sie hatten nicht einmal ein Lebewesen betroffen.
»Wieso können Sie bei mir so sicher sein?«, hakte Leon nach, während er den Psychiater aus dem Wohnzimmer begleitete. »Immerhin war ich doch schon als Kind auffällig.«
»Auffällig, aber nicht gewalttätig, Leon. Unzählige Sitzungen, Dutzende von Aufnahmen, und wir konnten nicht einen einzigen tätlichen Übergriff dokumentieren.«
»Vielleicht gab es auf den Bändern nichts zu sehen, weil wir das Experiment zu früh abgebrochen haben.«
Volwarth schüttelte den Kopf und legte ihm in einer vertrauten Geste die Hand auf die Schulter. »Wir haben nichts gesehen, weil es nichts zu sehen gab, und das
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