Der Nachtwandler
gefährlich.«
»Und wieso hatte ich ein Messer in der Hand?«
Als ich in dem Kinderzimmer stand. Vor dem Bett ihres Sohnes?
Bis heute war nicht klar, ob er damals dem neunjährigen Adrian tatsächlich etwas hatte antun wollen. Die Umstände, die Leon in sein Zimmer geführt hatten, waren äußerst mysteriös, immerhin hatte er ein Stockwerk nach unten gehen müssen, und die frei schwebende Designertreppe im Hause der Molls verfügte über kein Geländer, was sie schon im wachen Zustand zu einer Herausforderung machte. Das größte Rätsel aber gab das Brotmesser auf, mit dem Adrians Mutter den nachtwandelnden Leon erwischt hatte. Er hatte es mit beiden Händen gehalten, wie einen Dolch, über der Brust des schlafenden Kindes. Das Messer stammte nicht aus der Küche der Molls, und Leon hatte nicht erklären können, wie es in seinen Besitz gelangt war. Eine Tatsache, die ihm ebenso viel Angst einjagte wie die Frage, was passiert wäre, wenn die Mutter nicht durch das Knarzen der Dielen aufgeschreckt worden wäre und nachgesehen hätte. Adrian selbst hatte von seinem schlafenden Besucher und der drohenden Gefahr nichts wahrgenommen.
»Glaub mir, Leon. Du bist kein böser Junge«, sagte Volwarth auf dem Band. Trotz der schlechten Bildqualität konnte Leon in seinen Augen erkennen, dass er den Beteuerungen des Arztes damals nicht hatte glauben können. Kein Wunder.
Gleich am Morgen nach dem Vorfall hatten die Molls das Amt informiert, dass sie ihn nicht länger im Haus dulden konnten. Nach einigen Tagen im Heim fand er eine neue Bleibe bei den Naders, einem gutmütigen, kinderlosen Ehepaar, das viel zu verzweifelt ein Kind wollte, um sich von Leons Vorgeschichte abschrecken zu lassen. Sie taten das einzig Richtige und verschafften ihm mit Dr. Volwarth die bestmögliche psychiatrische Betreuung, auch wenn sie sich kostspielige Untersuchungen wie die Videoanalyse, die Leon heute wieder ausgegraben hatte, überhaupt nicht leisten konnten.
»Mit Hilfe der Kamera auf dem Kopf werden wir beweisen, dass es für alles eine harmlose Erklärung gibt«, sagte der junge Dr. Volwarth auf dem Band.
»Auch dafür?« Der elfjährige Leon beugte sich nach vorne und zog eine Plastiktüte unter dem Bett hervor, die er in die Kamera hielt.
»Oh Gott«, entfuhr es Volwarth, als das Kind den undefinierbaren Klumpen aus der Tüte zog und ihn der Kamera präsentierte.
»Was zum Teufel ist das?«
5.
O hne die Antwort abzuwarten, die er dem Arzt damals gegeben hatte, stoppte Leon den Videorekorder und bat Dr. Volwarth, wieder auf dem Sofa Platz zu nehmen.
»Als ob es gestern gewesen wäre«, sagte der Psychiater und lächelte versonnen, während er in den Lederpolstern versank.
Anders als in Leon schienen die Bilder der Vergangenheit in ihm angenehme Erinnerungen zu wecken.
»Sie hatten mir in diesem Moment einen ganz schönen Schreck eingejagt, Leon. In der ersten Sekunde befürchtete ich in jener Sitzung wirklich, Sie würden mir ein totes Tier zeigen.«
»Nein«, sagte Leon und griff unter den Couchtisch, unter dem er einen Schuhkarton plaziert hatte. Er öffnete den Deckel und präsentierte seinem Gast den Inhalt. »Ein Tier war es glücklicherweise nicht.«
» Die haben Sie auch aufgehoben?«, fragte Volwarth.
Leon schüttelte den Kopf. »Das sind nicht dieselben Turnschuhe. Diese hier habe ich heute früh in meiner Mikrowelle gefunden.«
»Heute?«
Volwarth beugte sich interessiert nach vorne.
»Ja. Ich hab sie heute Morgen entdeckt. Einen Tag, nachdem meine Frau mich verlassen hat.«
Der Psychiater griff an den Stecker in seinem Ohrläppchen und spielte an ihm herum.
»Sie sind verheiratet?«, fragte er nach einer kurzen Denkpause.
Leon war überrascht von dem plötzlichen Themenwechsel. »Ja. Warum?«
»Sie tragen keinen Ring«, erklärte Volwarth.
»Wie bitte?«
Leon tastete nach dem Ringfinger seiner linken Hand (Natalie hatte vorgeschlagen, ihn auf der Seite des Herzens zu tragen) und registrierte verblüfft, dass er nur noch den Abdruck in der Haut spürte, den der Ring dort hinterlassen hatte.
»Ich muss ihn im Bad abgelegt haben«, murmelte er, obwohl das nahezu unmöglich war. Er saß viel zu fest und war selbst mit Ölen und Cremes kaum zu bewegen. Leon hatte sich fest vorgenommen, ihn demnächst zum Juwelier zu bringen.
Volwarth schenkte ihm wieder einen langen analytischen Blick, dann fragte er: »Wollen Sie Kinder?«
»Ja, auf jeden Fall. Natalie hat am Tag unseres Einzugs die Pille abgesetzt,
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