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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erin Morgenstern
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zurück.
    »Du kannst lesen, nehme ich an?«, fragt der Mann.
    Der Junge nickt.
    »Ich lese gern«, sagt er. »Aber hier gibt es nicht genug Bücher. Ich habe schon alle gelesen.«
    »Gut.«
    Ohne Warnung wirft der Mann dem Jungen seinen Gehstock zu. Der Junge fängt ihn mühelos mit einer Hand, kneift allerdings verwirrt die Augen zusammen, als er zwischen Gehstock und Mann hin und her blickt.
    Der Mann nickt, holt sich den Gehstock wieder und zieht ein helles Taschentuch aus seiner Jacke, um die Fingerabdrücke des Jungen abzuwischen.
    »Sehr gut«, sagt er. »Du wirst mit mir kommen und bei mir lernen. Und ich kann dich beruhigen, ich habe sehr viele Bücher. Ich werde die nötigen Vorkehrungen treffen, dann machen wir uns auf den Weg.«
    »Kann ich auch nein sagen?«
    »Möchtest du hierbleiben?«
    Der Junge denkt kurz nach und schüttelt den Kopf.
    »Sehr gut.«
    »Wollen Sie nicht wissen, wie ich heiße?«, fragt der Junge.
    »Namen sind nicht annähernd so wichtig, wie die Leute immer meinen«, sagt der Mann im grauen Anzug. »Ein Etikett, das dir diese Einrichtung oder deine verstorbenen Eltern gegeben haben, interessiert mich nicht und nützt mir nichts. Wenn du irgendwann zu dem Schluss kommst, dass du einen Namen brauchst, suchst du dir einen aus. Fürs Erste jedenfalls ist es nicht von Belang.«
    Der Junge wird fortgeschickt, um eine kleine Tasche mit seinen wenigen Habseligkeiten zu packen. Der Mann im grauen Anzug unterschreibt Papiere und beantwortet die Fragen der Schulleiterin. Und obwohl sie die Antworten nicht alle ganz versteht, setzt sie der Abwicklung des Geschäfts nichts entgegen.
    Als der Junge fertig ist, verlässt er mit dem Mann im grauen Anzug das graue Steingebäude und kehrt nie wieder dorthin zurück.

Zauberlehre
    1875 – 1880
    C elia wächst in verschiedenen Theatern auf. Vorwiegend in New York, aber auch längere Zeiträume in anderen Städten. Boston. Chicago. San Francisco. Gelegentliche Aufenthalte in Mailand, Paris oder London. Sie vermischen sich zu einem Schleier aus abgestandener Luft, Samt und Sägemehl, manchmal so sehr, dass sie nicht genau weiß, in welchem Land sie sich gerade befindet – was für sie allerdings auch unerheblich ist.
    In ihrer Kindheit nimmt ihr Vater sie überall hin mit, um sie in teuren Kleidern wie ein drolliges Hündchen von seinen Kollegen und Bekannten nach den Vorstellungen in den Bars bestaunen zu lassen.
    Als er findet, dass sie zu groß ist, um als reizendes Accessoire zu dienen, lässt er sie immer häufiger in Garderoben und Hotels allein zurück.
    Jeden Abend fragt sie sich, ob er nach der Vorstellung zu ihr kommt, aber er stolpert immer erst zu nachtschlafender Stunde herein, streicht ihr manchmal zärtlich über den Kopf, während sie sich schlafend stellt, meist aber ignoriert er sie ganz.
    Ihr Unterricht findet nicht mehr wie früher zu festgelegten, wenn auch unregelmäßigen Zeiten statt, sondern er prüft ihre Leistungen jetzt ständig, allerdings nie in der Öffentlichkeit.
    Selbst so einfache Aufgaben wie Stiefel zubinden darf sie nicht mehr mit der Hand machen. Sie starrt auf ihre Füße und zwingt die Schuhbänder stumm, sich zu einigermaßen ordentlichen Schleifen zu binden, und blickt böse vor sich hin, wenn die Bänder sich verheddern oder verknoten.
    Ihr Vater ist nicht sehr mitteilsam, wenn sie Fragen stellt. Sie hat mitbekommen, dass der Mann im grauen Anzug, den ihr Vater Alexander nannte, auch einen Schüler hat und dass irgendein Spiel stattfinden soll.
    »So ähnlich wie Schach?«, fragt sie einmal.
    »Nein«, antwortet ihr Vater. »Nicht wie Schach.«
    *
    Der Junge wächst in einem Haus in London auf. Er sieht niemanden, selbst dann nicht, wenn man ihm die Mahlzeiten bringt: Sie erscheinen auf abgedeckten Tabletts an der Tür und verschwinden auf die gleiche Weise. Einmal im Monat kommt ein Mann, der kein Wort sagt und ihm die Haare schneidet. Einmal im Jahr nimmt derselbe Mann seine Maße für neue Kleider.
    Die meiste Zeit verbringt der Junge mit Lesen. Und Schreiben natürlich. Er schreibt Passagen aus Büchern ab, notiert Wörter und Symbole, die er anfangs nicht versteht, die ihm jedoch zunehmend vertraut werden, je öfter er sie mit seinen tintenverschmierten Fingern in klarer Schrift wiederholt. Er liest Geschichten, Sagen und Romane. Und er lernt langsam andere Sprachen, auch wenn er sie nur schwer sprechen kann.
    Hin und wieder gibt es Ausflüge in Museen und Bibliotheken, meist am frühen Abend, wenn nur

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