Der Name der Finsternis: Roman (German Edition)
ihm gesagt. Aron empfand in diesem Augenblick, als sei es erst gestern gewesen, zugleich wusste er, dass die Erinnerung aus
tiefen Brunnen der Vergangenheit emporstieg.
„Du hast das läuternde Feuer der Rache selbst gespürt in einem lange vergangenen Leben,“ sagte der Mahaguru.
„Ja,“ antwortete Aron wie in Trance. Er wusste nicht mehr, wo er war, in welcher Zeit er sich bewegte. Gegenwart und Vergangenheit überschnitten,
durchdrangen sich. Bitterster Schmerz packte Aron. Er hatte irgendwann das Hju betrogen, das heiligste in seinem Leben. Er war gefallen aus der Gunst des
Hju. Die ohnmächtige Angst vor äonenlanger Vernichtung kehrte wieder, die ihn in jener Nacht auf Bali angefallen, die ihm die Sinne geraubt hatte, eine
Angst, schrecklicher als jede Angst vor dem Tod.
„Du warst schon einmal von der Kraft erwählt,“ fuhr der Mahaguru fort. Seine Stimme hatte sich zu einem Flüstern gesenkt. Aron vermochte nicht mehr zu
unterscheiden, ob er die Stimme mit seinen Ohren hörte, oder ob die Gedanken des Mahaguru im Inneren seines Kopfes zu ihm sprachen. Auf einmal war ihm, als
verbinde sich sein Geist mit dem des Mahaguru, als ergebe sich sein Wille dem des Meisters.
„Wer war ich?“, hörte Aron sich sagen. Auch seine Stimme klang fern, wie das Echo eines Gedankens in seinem Kopf.
„Du warst nur ein Kaufmann, Aron, der verwöhnte, vergnügungssüchtige Sohn eines reichen Handelshauses und du wusstest wenig über die wahren Wege der Macht.
Du dientest ihr nur um deines Vorteils willen, denn dein Geist war von Gier und Ehrgeiz verblendet. Und doch hat die Macht dich zu ihrem Instrument
erwählt, denn nur du warst in der Lage, ihr einen wichtigen Dienst zu erweisen, du aber hast schmählich versagt.“
Wie ein würgender Brocken wuchs der Schmerz in Arons Kehle.
„Du hast deine Strafe erduldet, Aron. Nun hat dich die Macht erneut erwählt, ihr zu dienen. In ihrer unermesslichen Gnade gibt sie dir Gelegenheit, dich zu
bewähren.“
„Aber ich bin nur ein Eingeweihter des achten Kreises,“ antwortete Aron verzweifelt, besorgt, den Anforderungen wieder nicht gerecht werden zu können. „Ich
bin nur ein Absolvent der Akademie, der noch viel leisten muss, um in die höheren Ränge der Liga aufzusteigen.“
„Die Macht kümmert sich nicht um solche menschengemachten Dinge. Sie erwählt die ihren allein aus eigenem unerforschlichen Ratschluss. Vertraue ihr.“
Aron nickte. Sein ganzes Leben schien auf einmal wie eine hell erleuchtete Straße vor ihm zu liegen. Es war ihm klar, dass vollkommene Hingabe an den
Mahaguru Sinn und Erfüllung seines Daseins war, wie er schon als Jugendlicher gespürt, als Ben ihn eingeführt hatte in die Liga. „Ich will alles tun, um
mich würdig zu erweisen,“ stammelte er.
Noch immer schien Aron verschmolzen mit den Gedanken des Mahaguru, der schweigend und regungslos verharrte. Wieder schoben sich Bilder versunkener Zeiten
vor sein geistiges Auge, Bruchstücke von Ereignissen, von Farben, Tönen, Gerüchen. In die brennenden Augen des alten Mannes blickte er, den er auf Bali in
seinem Traum gesehen hatte, in ein versteinertes, von einem weißen Bart gerahmtes Gesicht. Vertraut war es, und doch schauderte er bei seinem Anblick,
spürte, wie eisige Angst quälend langsam durch den Körper kroch. Einen Moment nur blitzte dieses Antlitz auf und doch wusste Aron, dass er es seit endlosen
Zeiten kannte, dass er verflochten war mit ihm durch unlösbare Bande, dass ihn das Schicksal immer wieder in seine Gegenwart führen würde. Verwirrt blickte
er den Mahaguru an und fand auf seinem Gesicht dieselben Augen, denselben sengenden Blick, der alle Masken und Verstellungen zu durchdringen und
hinabzusehen vermochte in die geheimsten Kammern des Herzens.
„Alles ist vorherbestimmt,“ sagte der Mahaguru. „Die Mechanik, die das
Buch der Erleuchtung
Karma nennt, kennt keine Irrtümer. Niemandem gelingt
es, ihrer Herrschaft zu entkommen. Daher ist es nicht von Bedeutung, welche Stufe du in der Hierarchie der Liga erklommen hast. Du hast den Adepten gedient
in uralten Zeiten. Du bist für immer mit ihnen verbunden, gleich, wo du Wiedergeburt nimmst, gleich, wie lange du ausgeschlossen warst von ihrer Gnade. Sie
geben dir jetzt erneut Gelegenheit, dich zu bewähren. Bist du bereit?“
„Ja,“ rief Aron, obwohl noch immer ein Zittern der Angst in ihm nachhallte. Er konnte den Blick nicht wenden vom Gesicht des Mahaguru, glaubte das Antlitz
des
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