Der Name der Rose
zu große Angst, wißt Ihr . . .
Manchmal müssen Verbote für die Laien mit einer gewissen Drohung unterstrichen werden, etwa mit der Voraussage, daß dem Ungehorsamen etwas Schreckliches widerfahren könnte, etwas Übernatürliches selbstverständlich. Ein Mönch dagegen . . .«
»Verstehe.«
»Nicht nur, was Ihr meint. Ein Mönch könnte noch andere Gründe haben, sich an einen verbotenen Ort zu wagen. Gründe, die – wie soll ich sagen? – die begründet sein mögen, wenn auch wider die Regel . . .«
William bemerkte das Unbehagen des Abtes und warf eine Frage ein, die ihm wohl aus der Klemme helfen sollte, aber sein Unbehagen nur noch verstärkte: »Als Ihr eben von der Möglichkeit eines Mordes spracht, sagtet Ihr: Und wenn es nur das wäre. Was meintet Ihr damit?«
»Sagte ich das? Nun ja, man tötet nicht ohne einen Grund, wie pervers er auch sein mag, und ich zittere bei dem Gedanken an die Perversität der Gründe, die einen Mönch dazu bewegen können, einen Mitbruder umzubringen. Das meinte ich.«
»Sonst nichts?«
»Nichts, was ich Euch sagen könnte.«
»Meint Ihr damit: Nichts, was Ihr mir sagen dürftet?«
»Ich bitte Euch, Bruder William, Frater William!« Der Abt betonte beide Anreden gleichermaßen. William errötete heftig und murmelte:
» Eris sacerdos in aeternum. «
»Danke«, antwortete der Abt.
Oh, mein Gott, welch schreckliches Geheimnis war es, an das meine beiden unvorsichtigen Herren in diesem Augenblick rührten, der eine von Angst getrieben und der andere von Neugier? Denn wiewohl erst Novize und noch auf dem Wege zu den Mysterien des heiligen Priesteramtes, begriff selbst ich unerfahrenes Kind, daß der Abt offenbar etwas wußte, was er unter dem Siegel des Beichtgeheimnisses erfahren hatte –
etwas besonders Schlimmes und Sündhaftes, das mit dem tragischen Ende des Mönches Adelmus zu tun haben könnte. Und das war vielleicht auch der Grund, warum er nun Bruder William bat, ein Geheimnis aufzudecken, das er ahnte, aber niemandem offenbaren durfte, wobei er hoffte, mein scharfsinniger Meister werde kraft seines Verstandes erhellen, was er, der Abt, kraft des hehren Gebotes der Barmherzigkeit im dunkeln lassen mußte.
»Also gut«, sagte William schließlich. »Darf ich den Mönchen Fragen stellen?«
»Ihr dürft.«
»Kann ich mich frei bewegen in der Abtei?«
»Ich gebe Euch die Erlaubnis.«
»Werdet Ihr mir die Aufgabe coram monachis übertragen?«
»Noch heute abend.«
»Gut, aber ich werde sofort beginnen, noch ehe die Mönche wissen, mit welcher Aufgabe Ihr mich betraut habt. Ich wollte ohnehin schon seit langem – und das ist nicht der letzte Grund meines Besuches hier
– Eure Bibliothek besichtigen, von der man bewundernd in allen Klöstern der Christenheit spricht.«
Der Abt fuhr auf, tat fast einen Satz, und seine Züge verhärteten sich. »Ihr könnt Euch frei in der ganzen Abtei bewegen, wie ich gesagt habe. Nicht aber im Obergeschoß des Aedificiums, nicht in der Bibliothek!«
»Warum nicht?«
»Ich hätte es Euch vorher erklären sollen, aber ich dachte, Ihr wüßtet es schon. Unsere Bibliothek ist nicht wie die anderen . . .«
27
Der Name der Rose – Erster Tag
»Ich weiß, daß sie mehr Bücher als jede andere Bibliothek der Christenheit hat. Ich weiß, daß verglichen mit Euren Beständen diejenigen der Abteien von Bobbio oder Pomposa, von Cluny oder Fleury eher dem Spielzimmer eines Kindes gleichen, das gerade lesen zu lernen beginnt. Ich weiß, daß die sechstausend Codizes, derer sich Novalesa vor mehr als einem Jahrhundert rühmte, im Vergleich zu den Euren wenig sind, und vielleicht befinden sich viele von jenen nun hier. Ich weiß, daß Eure Abtei das einzige Licht ist, das die Christenheit den sechsunddreißig Bibliotheken von Bagdad, den zehntausend Handschriften des Wesirs Ibn al-Alkami entgegenzusetzen hat, daß die Zahl Eurer Bibeln den zweitausendvierhundert Koranabschriften gleichkommt, derer sich Kairo rühmt, und daß die Realität Eurer Schätze eine glänzende Widerlegung der stolzen Legende jener Ungläubigen darstellt, die Vorjahren behaupteten (vertraut mit dem Fürsten der Lüge, wie sie es sind), die Bibliothek von Tripolis besitze sechs Millionen Bände und sei bewohnt von achtzigtausend Kommentatoren und zweihundert Schreibern.«
»So ist es, gelobt sei der Herr!«
»Ich weiß, daß unter Euren Mönchen viele sind, die von weither kommen aus anderen Abteien; manche für kurze Zeit, um ein Manuskript zu kopieren,
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