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Der Name der Rose

Der Name der Rose

Titel: Der Name der Rose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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Nordseite der Kirche zum Aedificium.«
    »Ich verstehe«, sagte William, »und ich begreife nun Euer Problem. Wenn der Ärmste, Gott behüte, Selbstmord begangen hätte (denn es war ja kaum anzunehmen, daß er aus Versehen hinuntergefallen ist), so hättet Ihr am folgenden Morgen eins dieser Fenster offen vorfinden müssen, aber Ihr fandet sie alle wohlverschlossen, und vor keinem von ihnen fanden sich Wasserspuren.«
    Wie ich bereits gesagt habe, war der Abt ein Mann von großer Selbstbeherrschung und diplomatischer Unerschütterlichkeit, aber diesmal konnte er seine Überraschung nicht verbergen und schaute so verblüfft drein, daß ihm keine Spur von jener Würde blieb, die sich laut Aristoteles einem ernsthaften und gesetzten Manne ziemt. »Wer hat Euch das gesagt?«
    »Nun, Ihr selbst habt es mir gesagt«, erwiderte William. »Wäre ein Fenster offengestanden, so hättet Ihr doch gleich angenommen, daß der Unglückliche sich hinabgestürzt haben mußte. Nach dem, was ich von außen sehen konnte, handelt es sich um große Fenster mit Butzenscheiben, und Fenster dieser Art pflegen sich in Mauern von solcher Stärke gewöhnlich nicht auf ebener Erde zu öffnen. Hättet Ihr also eines von ihnen offen gefunden, so wäre Euch – da auszuschließen war, daß der Unglückliche sich hinausgebeugt und dabei das Gleichgewicht verloren hatte – nur der Gedanke an Selbstmord geblieben. Und in diesem Falle hättet Ihr ihn nicht in geweihter Erde begraben. Da Ihr ihn aber christlich begraben habt, müssen die Fenster geschlossen gewesen sein, und da sie geschlossen waren und mir noch nie, nicht einmal in Hexenprozessen, ein sündhaft aus dem Leben Geschiedener begegnet ist, dem Gott oder der Teufel es gestattet hätten, aus der Tiefe wieder heraufzuspringen, um die Spuren seiner sündigen Tat zu verwischen, liegt es auf der Hand, daß der vermeintliche Selbstmörder wohl in Wahrheit eher gestoßen worden sein muß, sei's von der Hand eines Menschen oder von der eines Dämons. Und nun fragt Ihr Euch, wer das gewesen sein mag, der den armen Bruder Adelmus, ich will nicht sagen hinuntergestürzt, aber doch mindestens irgendwie seines Willens beraubt und dann, vielleicht in betäubtem Zustand, auf das Fenstersims gehievt haben könnte, und Ihr seid bestürzt, weil offenbar eine böse Macht, sei sie natürlich oder übernatürlich, nun in der Abtei umgeht.«
    »So ist es . . .«, gab der Abt zu, und es war nicht ganz klar, ob er damit Williams Worte bestätigte oder sich selber Rechenschaft über die Richtigkeit dessen ablegte, was mein kluger Meister so scharfsinnig dargelegt hatte. »Aber woher wißt Ihr, daß wir unter keinem der Fenster Wasserspuren fanden?«
    »Weil Ihr mir gesagt habt, daß in jener Nacht ein heftiger Nordwind tobte. Folglich konnte das Wasser nicht gegen Fenster gedrückt werden, die sich nach Osten öffnen.«
    »Wahrlich, man hat mir noch nicht genug berichtet von Eurem Scharfsinn«, rief der Abt aus. »Ihr habt recht, es war tatsächlich kein Wasser da, und nun weiß ich auch, warum. Es hat sich alles so zugetragen, wie Ihr sagt. Versteht Ihr jetzt meine Besorgnis? Es wäre schon schlimm genug, wenn einer meiner Mönche sich mit der schrecklichen Sünde des Suizids befleckt hätte. Aber ich habe Grund zu der Annahme, daß ein anderer von ihnen sich mit einer mindestens ebenso schrecklichen Sünde befleckt hat. Und wenn es nur das wäre . . .«
    »Wieso meint Ihr, es müsse einer der Mönche gewesen sein? In Eurer Abtei leben doch auch zahlreiche andere Menschen, Stallburschen, Ziegenhirten, Knechte . . .«
    »Gewiß, es ist zwar eine kleine, aber reiche Abtei«, nickte der Abt mit unverhohlenem Stolz.
    »Hundertfünfzig Knechte für sechzig Mönche. Aber die Sache hat sich im Aedificium zugetragen. Im Aedificium befinden sich, wie Ihr vielleicht schon wißt, zwar unten die Küche und das Refektorium, aber in 26
    Der Name der Rose – Erster Tag
    den beiden Obergeschossen das Skriptorium und die Bibliothek. Nach dem Abendmahl wird das ganze Gebäude geschlossen, und eine strenge Regel verbietet jedem, es zu betreten.« Die Frage Williams erratend, fügte er rasch hinzu: »Auch den Mönchen, aber . . .«
    »Aber?«
    »Aber ich halte es für ausgeschlossen, ganz und gar ausgeschlossen, versteht Ihr, daß einer der Knechte den Mut aufbrächte, das Aedificium nachts zu betreten.« Ein Anflug von herausforderndem Lächeln blitzte in seinen Augen auf, erlosch aber sogleich wieder. »Sagen wir: sie hätten viel

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