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Der Name der Rose

Der Name der Rose

Titel: Der Name der Rose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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Heiligen wegnimmt, was wird dann bloß aus uns armen Sündern!«
    210
    Fünfter Tag
    211
    212
    Der Name der Rose – Fünfter Tag
    FÜNFTER TAG
    PRIMA
    Worin eine brüderliche Diskussion über die Armut Christi stattfindet.
    Das Herz noch erfüllt von zahllosen Ängsten infolge der nächtlichen Szene, fuhr ich am Morgen des fünften Tages verstört aus dem Schlaf, als William mich heftig wachrüttelte. Die erste Stunde hatte bereits geschlagen, gleich würden sich die beiden Legationen versammeln. Ich rieb mir die Augen, schaute zum Fenster der Zelle hinaus und sah nichts. Der Nebel vom Vortag hatte sich zu einer milchigen Suppe verdichtet, die unangefochten das ganze Plateau beherrschte.
    Als wir hinaustraten, bot die Abtei einen Anblick, wie wir ihn an keinem der Tage zuvor gesehen: Nur die größten Gebäude, die Kirche, das Aedificium und der Kapitelsaal, zeichneten sich aus der Ferne ab, verschwommen, als graue Schatten im weißlichen Dunst, alles andere wurde erst sichtbar, wenn man unmittelbar davorstand. Die Formen der Dinge und Lebewesen tauchten auf, als kämen sie aus dem Nichts, die Menschen erschienen zunächst wie graue Schemen und wurden nur mühsam erkennbar.
    Im Norden geboren, war ich kein Neuling in diesem Element, unter anderen Umständen hätte es mich sogar mit einer gewissen Zärtlichkeit an das flache Land und die Burg meiner Kindheit erinnert. An jenem Morgen indessen schien mir die Verfassung der Luft in schmerzlicher Weise meiner Gemütsverfassung zu ähneln, und die Beklommenheit, die ich beim Erwachen verspürt hatte, wurde größer, je näher wir dem Kapitelsaal kamen.
    Wenige Schritte vor dem Gebäude erblickte ich Bernard Gui, der sich gerade von einer Person verabschiedete, die ich nicht gleich erkannte. Dann sah ich, daß es Malachias war. Er schaute verstohlen um sich, wie einer, der Böses im Schilde fuhrt und nicht ertappt werden will. Aber ich habe ja schon gesagt, daß dieser Mann immer so aussah, als hätte er irgendein dunkles, uneingestandenes Geheimnis zu verbergen.
    Er ging davon, ohne mich erkannt zu haben. Ich beobachtete voller Neugier den Inquisitor und sah, daß er Schriftstücke in der Hand hielt, die er mit raschem Blick überflog; vielleicht hatte er sie von Malachias erhalten. Auf der Schwelle des Kapitelsaals winkte er mit einer knappen Geste den Hauptmann der Bogenschützen herbei, der in der Nähe gestanden hatte, und raunte ihm ein paar Worte zu. Dann ging er hinein, und ich folgte ihm.
    Es war das erste Mal, daß ich dieses Gebäude betrat, dessen Äußeres eher bescheiden und nüchtern wirkte; ein Bau aus neuerer Zeit, der mich nicht sonderlich interessiert hatte, doch nun erkannte ich, daß er auf den Resten einer sehr alten, womöglich durch einen Brand zerstörten Abteikirche errichtet worden war.
    Denn durch ein hohes Portal im modernen Stil, mit schmucklosem Spitzbogen und gekrönt von einer Rosette, gelangte ich in eine Vorhalle, die sich auf den Grundmauern eines alten Narthex erhob, und stand überrascht vor einem zweiten Portal, das in der alten Manier gestaltet war, überwölbt von einem Rundbogen, der ein halbmondförmiges Tympanon voller wunderbarer Figuren umschloß. Es handelte sich ohne Zweifel um das Portal der alten Kirche.
    Die Skulpturen in diesem Tympanon waren ebenso schön, aber nicht so beunruhigend wie die am Portal der neuen Kirche. Auch hier beherrschte ein thronender Christus die ganze Komposition, doch rechts und links neben ihm standen und saßen, in verschiedenen Stellungen und verschiedene Gegenstände haltend, die zwölf Apostel, die von ihm den Auftrag erhalten hatten, in die Welt zu gehen und den Menschen das Evangelium zu bringen. Über dem Haupt des Erlösers, angeordnet in einem Bogen, der sich in zwölf Paneele teilte, sowie unter seinen Füßen in einer ununterbrochenen Prozession von Figuren, waren die Völker der Welt dargestellt, denen die Frohe Botschaft gebracht werden sollte, und ich erkannte an ihren Kostümen die Juden, die Kappadozier, die Araber und die Inder, die Phrygier, die Byzantiner, die Armenier und die Skythen sowie die Römer. Doch vermischt mit ihnen sah ich, aufscheinend in dreißig Rundbildern, die sich über dem Bogen der zwölf Paneele zu einem zweiten Bogen fügten, die Bewohner der unbekannten Welten, von denen zuweilen der Physiologus und die Berichte der Reisenden sprechen. Viele von ihnen waren mir gänzlich unbekannt, andere erkannte ich: zum Beispiel die Wesen mit sechs Fingern an jeder

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