Der Name der Rose
Verdacht . . . Aus diesem Grunde, folgerte William, scheine ihm die Vermutung richtig, daß die Kirche von Avignon Unrecht täte gegenüber der ganzen Menschheit, wenn sie behaupten wollte, es käme ihr zu, die Wahl des römischen Kaisers zu billigen oder für ungültig zu erklären. Der Papst habe im Hinblick auf das Kaiserreich keine größeren Rechte als im Hinblick auf die anderen Reiche der Welt, und da weder der König von Frankreich 224
Der Name der Rose – Fünfter Tag
noch der Sultan einer päpstlichen Approbation unterliegen, sei nicht einzusehen, warum ausgerechnet der Kaiser der Deutschen und Italiener ihr unterliegen sollte. Eine solche Abhängigkeit des Kaisers vom päpstlichen Segen ergebe sich weder aus göttlichem Recht, sonst hätten die Schriften davon gesprochen, noch aus dem Recht der Völker, kraft obengenannter Gründe. Was schließlich den Bezug zur Armutsfrage betreffe, sagte William zum Abschluß, so führten die dargelegten Ansichten, die in Form bescheidener Denkanstöße von ihm und einigen anderen wie Marsilius von Padua und Johannes Jandun entwickelt worden seien, zu folgenden Konklusionen: Wenn die Franziskaner arm bleiben wollten, so könne und dürfe der Papst sich einem so frommen Wunsch nicht widersetzen. Freilich, wäre die Hypothese der Armut Christi beweisbar, so würde sie nicht nur den Minoriten helfen, sondern auch den Gedanken bestärken, daß Jesus keinerlei irdische Jurisdiktion für sich haben wollte. Doch wie kluge Männer heute morgen versicherten, sei die Armut Christi nicht beweisbar. Somit erscheine es vielleicht sinnvoller, die Beweisführung umzudrehen: Da niemand behauptet hat, noch hätte behaupten können, Jesus habe für sich oder seine Jünger eine weltliche Jurisdiktion beansprucht, könne man wohl in dieser Distanz Unseres Herrn zu den weltlichen Dingen ein hinreichendes Indiz für die Annahme sehen, daß Jesus im gleichen Maße der Armut zugetan war.
William hatte so ruhig gesprochen und seine Gewißheiten mit so vielen Ausdrücken des Vorbehalts und des Zweifels gespickt, daß niemand aufspringen konnte, um ihn zu widerlegen. Was freilich nicht heißt, daß alle von seinen Ausführungen überzeugt waren. Im Gegenteil, nicht nur die Avignoneser wirkten verstört und tuschelten aufgeregt miteinander, auch der Abt schien recht negativ von Williams Worten beeindruckt zu sein, er hatte sich wohl die Beziehungen zwischen seinem Orden und dem Reich ganz anders vorgestellt.
Was die Minoriten betraf, so schauten Michael von Cesena verblüfft, der Bischof von Kaffa fassungslos und Ubertin recht nachdenklich drein . . .
Die Stille wurde schließlich vom Kardinal unterbrochen, der, wie immer lächelnd, leutselig fragte, ob William nach Avignon zu gehen und diese Ansichten auch dem Herrn Papst vorzutragen gedenke. William fragte zurück, was der Herr Kardinal ihm rate, woraufhin dieser meinte, der Heilige Vater habe zwar schon viele fragwürdige Ansichten in seinem Leben gehört und sei stets sehr liebevoll zu seinen Kindern, aber diese Ansichten würden ihn sicherlich sehr bekümmern.
Hier ließ Bernard Gui sich vernehmen, der bisher kein Wort gesagt hatte: »Ich wäre sehr froh, wenn Bruder William, der seine Gedanken so geschickt und eloquent darzulegen vermag, nach Avignon ginge, um sie dem Urteil des Heiligen Vaters zu unterbreiten . . .«
»Ich danke Euch, Herr Inquisitor, Ihr habt mich überzeugt«, sagte William zufrieden. »Ich werde nicht gehen.« Und zum Kardinal gewandt im Ton der Entschuldigung: »Diese Reizung, wißt Ihr, die mich da an der Brust überfallen hat, läßt es mir nicht geraten erscheinen, in dieser Jahreszeit eine so lange Reise anzutreten.«
»Warum habt Ihr dann so lange gesprochen?« wollte der Kardinal wissen.
»Um die Wahrheit zu bezeugen«, sagte William bescheiden. »Die Wahrheit macht uns frei.«
»Oh nein«, platzte in diesem Moment Jean de Baune los. »Hier handelt es sich nicht um die Wahrheit, die uns frei macht, sondern um die Freiheit, die sich wahrmachen will!«
»Auch das ist möglich«, gab William sanftmütig zu.
Ich hatte plötzlich das unbestimmte Gefühl, daß gleich ein neuer Sturm der Herzen und Zungen losbrechen würde, bedeutend heftiger noch als der erste. Doch nichts dergleichen geschah. Denn während Jean de Baune noch gesprochen hatte, war der Hauptmann der Bogenschützen in den Saal getreten und zu Bernard geeilt, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Nun erhob sich der Inquisitor und verlangte mit
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