Der Name der Rose
Annodazumal wären, als auf Biegen und Brechen hinter dem Sinn herlaufen.
In Prosaerzählungen wird der Atem nicht den Satzgliedern anvertraut, sondern größeren Einheiten, Szenen oder Ereignissequenzen. Manche Romane atmen wie Gazellen, andere wie Wale oder Elefanten. Die Harmonie liegt nicht in der Länge der Atemzüge, sondern in ihrem Gleichmaß; auch weil und damit dann
– wenn der Atem an einem bestimmten Punkt (aber nicht zu oft) stockt und ein Abschnitt oder Kapitel endet, bevor ganz »ausgeatmet« worden ist – dies eine wichtige Rolle in der Ökonomie des Erzählens gewinnen, einen Abbruch oder Szenenwechsel markieren kann. So jedenfalls sehen wir es bei den Großen: Ein Satz wie » la sventurata rispose « – Punkt und Neubeginn – hat nicht den gleichen Rhythmus wie ein
» Addio monti «14,aber wenn er kommt, ist es, als würde der schöne lombardische Himmel blutrot. Ein großer Roman ist einer, in dem der Autor stets weiß, wann er beschleunigen und wann er bremsen muß und wie er diese Pedaltritte bei konstantem Grundrhythmus zu dosieren hat. Auch in der Musik gibt es solche Pedaltritte, man kann die Tempi »raffen« ( rubare ), doch wer zuviel rafft, wird einer von jenen schlechten Pianisten, die meinen, um Chopin zu spielen, genüge ein exzessives Rubato. Ich spreche hier nicht davon, wie ich meine Probleme gelöst habe, sondern wie ich sie mir gestellt habe. Und wenn ich sagen würde, ich hätte sie mir bewußt gestellt, wäre das eine Lüge. Es gibt ein kompositorisches Denken, das auch durch den Rhythmus der Finger auf den Tasten der Schreibmaschine denkt.
Ein Beispiel mag zeigen, wie das Erzählen ein Denken mit den Fingern sein kann. Es ist klar, daß die Szene mit Adsons Liebeserlebnis in der nächtlichen Küche aus lauter religiösen Zitaten zusammenmontiert ist, vom Lied der Lieder bis zu Bernhard von Clairvaux, Jean de Fecamp und Hildegard von Bingen. Auch wer keine Erfahrung mit hochmittelalterlicher Mystik hat, aber ein bißchen Ohr, wird das gemerkt haben.
Doch wenn ich heute gefragt werde, von wem die Zitate im einzelnen sind und wo das eine aufhört und das andere beginnt, kann ich es nicht mehr sagen.
Ich hatte mir nämlich Dutzende von Zetteln mit Auszügen aus allen möglichen Texten, mehrere Bücher und einen Haufen Fotokopien bereitgelegt, viel mehr als ich dann wirklich benutzte. Aber als ich ans Schreiben ging, schrieb ich die Szene in einem Zug nieder (erst später habe ich sie gefeilt und gleichsam mit einer Glasur überzogen, um die Nahtstellen noch etwas besser zu tarnen). Und während ich schrieb, die Texte kunterbunt um mich her, fuhr ich mit den Augen ständig von einem zum anderen, holte mir da ein Zitat und dort ein Zitat und verschweißte jedes sofort mit dem nächsten. Kein anderes Kapitel des Buches habe ich in der ersten Fassung so rasch heruntergeschrieben wie dieses. Später begriff ich, daß ich versucht hatte, mit den Fingern dem Rhythmus des Liebesaktes zu folgen, weshalb ich nicht anhalten konnte, um mir das »richtige« Zitat herauszusuchen. Was ein Zitat an einer gegebenen Stelle richtig machte, war der Rhythmus, in dem ich es einmontierte, ich schied mit den Augen aus, was den Rhythmus der Finger gestört hätte . . . Es wäre zuviel gesagt, wenn ich behaupten würde, daß die Niederschrift des Geschehens nicht länger gedauert hatte als das Geschehen selbst (obwohl es ja Liebesakte von beträchtlicher Dauer gibt), aber ich war bestrebt, die Differenz zwischen der Dauer des Aktes und der des Schreibens so weit wie möglich zu verringern. Und ich meine hier nicht das Schreiben im Barthesschen Sinne der écriture, sondern im praktischen Sinne dessen, der tippt, ich spreche vom Schreiben als einem materiellen, physischen Akt. Und ich spreche von Rhythmen des Körpers, nicht von Emotionen. Die Emotion, längst gefiltert, war vorher gewesen, in der Entscheidung zur Assimilation von mystischer und erotischer Ekstase, als ich die zu benutzenden Texte gelesen und ausgewählt hatte. Danach war keinerlei Emotion mehr im Spiel, Adson war es, der Liebe machte, nicht ich, und mir blieb nur noch die Aufgabe, seine Emotion in ein Augen- und 339
Nachschrift zum »Namen der Rose«
Fingerspiel umzusetzen, als wollte ich eine Liebesgeschichte nicht mit Worten auf dem Papier erzählen, sondern mit Schlägen auf einer Trommel.
Den Leser schaffen
Rhythmus, Atem, Initiation . . . Für wen, für mich? Nein, für den Leser. Wer schreibt, denkt an einen Leser. So wie
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