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Der Name der Rose

Der Name der Rose

Titel: Der Name der Rose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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unterschiedlichen Lehren. Zum Beispiel werden die Katharer häufig mit den Waldensern verwechselt, obwohl ein großer Unterschied zwischen ihnen besteht. Die Waldenser predigten eine Erneuerung der Lebensweise innerhalb der bestehenden Kirche, die Katharer predigten eine andere Kirche, eine andere Anschauung Gottes und der Moral. Sie meinten, die Welt zerfalle in zwei streng geschiedene und einander hart entgegengesetzte Teile, hier die Kräfte des Guten, dort die Kräfte des Bösen; sie hatten eine eigene Kirche gegründet, in der die kleine Führungsschicht der Perfecti sich scharf von den einfachen Gläubigen abgrenzte; sie hatten eigene Sakramente und eigene Riten und eine sehr starre Hierarchie, fast so starr wie die unserer heiligen Mutter Kirche, und sie dachten gar nicht daran, jedwede Form von Macht zu zerschlagen – was übrigens erklärt, weshalb unter anderem große Herren, Grundbesitzer und reiche Adlige zu ihnen stießen. Auch dachten die Katharer gar nicht daran, die Welt zu verändern, da ihnen der Gegensatz zwischen gut und böse als schlechthin unüberwindlich erschien. Die Waldenser dagegen (und mit ihnen die Arnoldisten oder lombardischen Pauperes) wollten eine andere Welt errichten auf einem Ideal der Armut, weshalb sie die Elenden und Entrechteten in ihre Reihen aufnahmen und gemeinschaftlich von ihrer Hände Arbeit lebten. Die Katharer lehnten die Sakramente der römischen Kirche ab, die Waldenser nicht, sie verwarfen lediglich die Ohrenbeichte.«
    »Aber warum werden dann die beiden Bewegungen stets in einem Atemzug genannt, warum spricht man von ihnen immer, als wären sie beide ein und dasselbe schlimme Unkraut?«
    »Ich sagte doch: Was sie mit Leben erfüllt, das bringt ihnen auch den Tod. Sie erhalten Zulauf von einfachen Leuten, die durch andere Bewegungen aufgerüttelt worden sind und nun meinen, es handle sich um das gleiche Motiv der Revolte und der Hoffnung. Außerdem werden sie von den Inquisitoren zerschlagen, die den einen die Fehler der anderen zuschreiben. Wenn die Sektierer einer bestimmten Bewegung irgendwo ein Verbrechen begangen haben, wird dieses Verbrechen sofort den Sektierern aller Bewegungen zugeschrieben. Nach der Vernunft sind die Inquisitoren im Unrecht, da sie entgegengesetzte Doktrinen in einen Topf werfen, aber nach dem Unrecht der anderen sind sie im Recht, denn sobald irgendwo zum Beispiel eine Bewegung von Arnoldisten aufkommt, strömen ihr auch diejenigen zu, die vielleicht anderswo Katharer oder Waldenser geworden wären (oder gewesen waren). Die Apostler des Fra Dolcino predigten die physische Vernichtung der Kleriker und der weltlichen Herren, und sie begingen viele Gewalttaten. Die Waldenser waren seit jeher Gegner der Gewalt, ebenso die Fratizellen. Gleichwohl bin ich überzeugt, daß in Fra Dolcinos Bande viele mitliefen, die vorher den Fratizellen oder der waldensischen Predigt gefolgt waren. Die einfachen Leute, lieber Adson, können sich ihre Häresie nicht aussuchen, sie halten sich immer an den, der gerade in ihrer Gegend predigt, der durch ihr Dorf kommt oder auf ihren Plätzen spricht. Und genau das machen sich die Feinde der Ketzer und Reformatoren zunutze. Den erschrockenen Leuten von der Kanzel herab ein einziges, undifferenziertes Ketzertum vor Augen zu führen, das womöglich im gleichen Zuge sowohl die Absage an die geschlechtliche Lust als auch die fleischliche Kommunion der Leiber propagiert, ist heutzutage gute Predigerkunst. Denn sie präsentiert die Vielfalt der Häresien als ein einziges großes Knäuel teuflischer Widersprüche, das den gesunden Menschenverstand beleidigt.«
    »Also gibt es keinerlei Wechselbeziehung zwischen den einzelnen Ketzergruppen, und es beruht auf teuflischem Blendwerk der Hölle, wenn ein armer Tropf, der vielleicht gern ein Joachimit oder ein Spiritualer geworden wäre, statt dessen den Katharern in die Hände fällt?«
    »Nein, lieber Adson, so ist es nun auch wieder nicht. Fangen wir nochmal von vorn an – und bitte glaube mir, was ich dir hier zu erklären versuche, ist mir, so fürchte ich jedenfalls, selber nicht völlig klar. Meines Erachtens liegt der entscheidende Irrtum darin, daß man meint, erst käme die Ketzerei und dann das Laienvolk, das sich ihr hingibt (und sich in ihr verliert). In Wahrheit kommt erst die Lage des einfachen Volkes und dann die Ketzerei.«
    »Wie soll ich das verstehen?«
    »Nun, du kennst doch die gängige Vorstellung von der Konstitution des Christen Volkes. Eine große

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