Der Name der Rose
bezichtigt?«
»Ja, und aus demselben Grund anerkennt sie als rechtgläubig die Ketzerei, die sie unter ihre Kontrolle zu bringen vermag, oder die sie akzeptieren muß, weil sie zu stark geworden ist und es nicht ratsam wäre, sie als Gegner zu haben. Natürlich gibt es dafür keine feste Regel, es kommt immer auf die Menschen und auf die Umstände an. Genauso verhalten sich auch die weltlichen Herren. Vor fünfzig Jahren erließ die Gemeinde von Padua eine Verordnung, in der als Strafe für Mord an einem Geistlichen die Zahlung eines relativ hohen Bußgeldes festgesetzt wurde …«
»Das ist doch keine Strafe für Mord!«
»Genau. Es war eine indirekte Ermunterung der Wut des Volkes auf den Klerus, denn die Gemeinde lag damals im Streit mit dem Bischof. Nun verstehst du auch, warum die Gläubigen zu Cremona vor einigen Jahren den Katharern Unterstützung gewährten: nicht aus Glaubensgründen, sondern um der Kirche in Rom einen Denkzettel zu verpassen. Manchmal ermuntern die Ratsherren einer Stadt auch die Ketzer, das Evangelium in die Volkssprache zu übersetzen, denn die Volkssprache ist heutzutage die Sprache der Städte, Latein ist nur noch die Sprache Roms und der Klöster. Oder sie ermuntern die Waldenser zu behaupten, alle Menschen, Männer und Frauen, Große und Kleine, seien gleichermaßen imstande zu lehren und zu predigen, und wenn ein Handwerksbursche zehn Tage lang unterwiesen worden sei, könne er sich einen anderen suchen, um dessen Lehrer zu werden …«
»Womit sie den Unterschied auslöschen, der die Kleriker unersetzlich macht! Aber wie kommt es dann, daß auch die städtischen Magistrate manchmal gegen die Ketzer vorgehen und daß sie der Kirche helfen, sie auf den Scheiterhaufen zu bringen?«
»Weil sie merken, daß ein weiteres Umsichgreifen der Ketzerei auch die Privilegien der Laien, die in der Volkssprache reden, antasten würde. Auf dem Laterankonzil im Jahre 1179 (du siehst, diese Geschichten reichen bald zweihundert Jahre zurück) warnte bereits Walter Map vor den Folgen einer zu großen Nachsicht gegenüber den Jüngern des Wanderpredigers Waldes, den ersten Waldensern, die er Idioten und Illiteraten nannte. Er sagte, wenn ich mich recht entsinne, sie hätten keine feste Bleibe, sie liefen barfuß herum ohne jede Habe, alles gemeinschaftlich teilend, als nackte Jünger dem nackten Christus folgend; noch sei ihre Zahl zwar verschwindend gering und ihr Auftreten äußerst bescheiden, weil sie Ausgeschlossene seien, doch wenn man ihnen zuviel Raum lasse, würden sie eines Tages alle verjagen. Deswegen haben die Städte dann später auch häufig die Bettelorden begünstigt und insbesondere uns Franziskaner, denn wir erlaubten ihnen den Aufbau einer harmonischen Wechselbeziehung zwischen dem Bedürfnis nach Buße und dem städtischen Leben, zwischen der Kirche und den Bürgern, die an ihren Märkten interessiert sind …«
»Und ist es damals gelungen, die Liebe zu Gott mit der Liebe zum Handel in Einklang zu bringen?«
»Nein, die spirituellen Reformbewegungen rannten sich fest und wurden in die festen Bahnen eines vom Papst anerkannten Ordens kanalisiert. Doch was darunter brodelte, wurde nicht kanalisiert. Es mündete einerseits in die Flagellantenbewegung, die niemandem etwas zuleide tut, andererseits in die Gründung bewaffneter Banden wie jener des Fra Dolcino oder auch in die Gründung geheimbündlerischer Sekten mit magischen Ritualen wie denen der Brüder von Montefalco, von denen Ubertin sprach …«
»Aber wer war dann im Recht?« fragte ich bestürzt. »Wer ist im Recht und wer ist im Unrecht?«
»Alle waren auf ihre Weise im Recht, und alle waren im Unrecht …«
»Aber Ihr müßt doch eine Meinung haben!« begehrte ich auf. »Warum nehmt Ihr nicht Stellung, warum sagt Ihr mir nicht, wo die Wahrheit liegt?«
William verharrte einen Augenblick schweigend und hob die Linse, an der er gerade feilte, gegen das Licht. Dann senkte er sie auf den Tisch und zeigte mir durch die Linse hindurch eine Feile. »Schau her«, sagte er. »Was siehst du?«
»Die Feile, ein wenig vergrößert.«
»Eben. Das Äußerste, was man tun kann, ist, besser hinzuschauen.«
»Aber die Feile bleibt immer dieselbe!«
»Auch die Handschrift des Venantius bleibt immer dieselbe, wenn es mir dank dieser Linse gelungen sein wird, sie zu lesen. Aber wenn ich sie dann gelesen habe, kenne ich vielleicht ein bißchen mehr von der Wahrheit. Und vielleicht können wir dann das Leben dieser Abtei ein wenig
Weitere Kostenlose Bücher