Der Name der Rose
entsetzlich!« rief ich erschrocken. »Dann waren es also keine lieblichen Singvögel?«
»Es waren Raubvögel, Ausgeschlossene wie die Leprakranken. Franziskus dachte dabei gewiß an jenen Vers aus der Apokalypse, der da heißt: ›Und ich sah einen Engel in der Sonne stehn, und er schrie mit großer Stimme und sprach zu allen Vögeln, die unter dem Himmel fliegen: Kommt und versammelt euch zu dem Abendmahl des großen Gottes, daß ihr esset das Fleisch der Könige und Hauptleute und das Fleisch der Starken und der Pferde und derer, die darauf sitzen, und das Fleisch aller Freien und Knechte, der Kleinen und der Großen!‹«
»Also wollte Franziskus die Ausgeschlossenen zur Rebellion aufrufen?«
»Nein, das taten höchstens Fra Dolcino und die Seinen. Franziskus wollte die zur Rebellion bereiten Ausgeschlossenen dazu bewegen, sich in das Volk Gottes wieder eingliedern zu lassen. Um die zerstreute Herde wieder zu sammeln, mußten zuerst die verlorenen Schafe wiedergefunden werden. Leider war ihm kein Erfolg beschieden, und das sage ich hier mit großer Bitterkeit. Um die Ausgeschlossenen zu integrieren, mußte Franziskus im Innern der Kirche handeln; um im Innern der Kirche zu handeln, mußte er dafür sorgen, daß seine Regel anerkannt wurde, aus der ein Orden hervorgehen sollte – und ein Orden, wie er dann aus ihr hervorging, mußte zwangsläufig wieder das Bild eines Kreises bieten, an dessen Rändern die Ausgeschlossenen leben … Begreifst du nun, warum sich später die Banden der Fratizellen und Joachimiten gebildet haben, die gleichfalls wieder die Ausgeschlossenen um sich versammeln?«
»Ja, aber wir sprachen doch nicht vom heiligen Franz, sondern von der Frage, inwiefern die Ketzerei durch das Laienvolk und die Ausgeschlossenen hervorgebracht worden ist.«
»Richtig, wir sprachen von den verstoßenen Schafen. Jahrhundertelang, während Papst und Kaiser einander in ihren Machtdiatriben befehdeten, hatten sie an den Rändern der Herde gelebt – sie, die wahren Aussätzigen, für welche die Lepra nur das Zeichen ist, das Gott uns gesetzt hat, damit wir dieses treffliche Gleichnis verstehen und endlich begreifen, daß ›Aussätzige‹ nichts anderes heißt als: Ausgeschlossene, Entrechtete, Niedergehaltene, Entwurzelte und Getretene, das ganze ins Elend gestürzte oder im Elend gehaltene Volk auf dem Lande und in den Städten. Aber wir haben das Gleichnis nicht verstanden, das Geheimnis der Lepra hat uns weiterhin immer nur Angst gemacht, weil wir seine Zeichen natur nicht erkannten. So waren die Ausgestoßenen schließlich bereit, jeder Predigt zu folgen (und das hieß: sie hervorzubringen), die unter Berufung auf das Wort Gottes de facto das Verhalten der Hirten und Hunde anprangerte und versprach, daß eines Tages die Strafe dafür kommen werde. Und das verstehen die Mächtigen immer. Sie wußten sofort: eine Reintegration der Ausgeschlossenen würde unvermeidlich zu einer Schmälerung ihrer Privilegien fuhren, und darum mußten die Ausgeschlossenen, die sich ihres Ausgeschlossenseins innezuwerden begannen, als Ketzer verbrannt werden – gleichgültig, welcher häretischen Lehre sie folgten. Auch den Ausgeschlossenen ging es, verblendet durch ihren Ausschluß, in Wahrheit nicht um irgendeine Lehre. Zu glauben, jemand sei wirklich an ihrer Lehre interessiert, ist die Illusion aller Häresien. Jeder ist ketzerisch, jeder ist rechtgläubig, nicht um den Glauben geht es, den eine Bewegung anbietet, sondern allein um die Hoffnung, die sie weckt. Jede häretische Lehre ist stets nur das Banner, die Kampfparole einer Revolte gegen realen Ausschluß. Kratz an der Häresie, und du findest den Aussätzigen. Jeder Kampf gegen die Häresie will in Wahrheit nur eines: daß die Aussätzigen bleiben, was sie sind. Was willst du da von den Aussätzigen verlangen? Daß sie feine Unterscheidungen treffen zwischen wahren und falschen Elementen im Dogma von der Dreifaltigkeit oder in den Definitionen der Eucharistie? Ach, Adson, dergleichen sind schöne Spielchen für uns Theologen. Das einfache Volk hat andere Probleme. Und merke: Es löst sie immer falsch. Darum bringt es die Ketzer hervor.«
»Aber warum werden die Ketzer dann von manchen Herren ermuntert?«
»Weil sie manchen Herren ganz gut in den Kram passen – als Spielsteine in einem Spiel, bei dem es meist nicht um Fragen des Glaubens geht, sondern um Fragen der Macht.«
»Ist das der Grund, warum die römische Kirche ihre Gegner stets als Ketzer
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