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Der Name der Rose

Der Name der Rose

Titel: Der Name der Rose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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Verzweiflung … Oder nein, das ist keine gute Allegorie. Denk lieber an einen großen Fluß, einen mächtigen Strom, der über weite Strecken zwischen festen Dämmen einherfließt, so daß man genau weiß, wo der Fluß ist, wo der Damm und wo das feste Land. An einem bestimmten Punkt aber tritt der Strom über seine Ufer – aus Trägheit vielleicht, weil er schon zu lange und durch zu viele Länder geflossen ist, weil er sich dem Meer nähert, das alle Flüsse und Ströme in sich aufnimmt – und weiß selbst nicht mehr recht, wo sein wahres Bett ist. Er wird zu seinem eigenen Delta. Vielleicht bleibt noch ein Hauptarm bestehen, aber viele Seitenarme verzweigen sich in alle Richtungen, einige fließen auch wieder zusammen, und du kannst nicht mehr unterscheiden, was Ursache ist und was Wirkung, manchmal weißt du nicht einmal mehr, was noch Strom ist und was bereits Meer …«
    »Wenn ich Eure Allegorie richtig verstehe, meint Ihr mit dem Strom die Stadt Gottes oder das Reich der Gerechten, das sich dem Jahrtausend nähert und sich in dieser Ungewißheit nicht mehr zu halten vermag, so daß falsche und echte Propheten aufkommen und alles sich zügellos in die Große Ebene ergießt, wo das Armageddon stattfindet …«
    »Das habe ich nicht unbedingt gemeint. Gewiß hat sich gerade bei uns Franziskanern stets die Idee des Dritten Weltzeitalters und des Anbruchs des Regnum Spiritus Sancti lebendig gehalten. Aber ich wollte dir eher begreiflich machen, wie der Leib der Kirche, der jahrhundertelang identisch war mit dem Leib der ganzen Gesellschaft, mit dem Populus Dei, allmählich zu füllig geworden ist, zu dick und zu schwer, da er die Schlacken all jener vielen Länder und Gegenden mit sich schleppt, durch die er gezogen ist, und infolgedessen seine ursprüngliche Reinheit verloren hat. Die vielen Arme des Deltas sind, wenn du so willst, ebensoviele Versuche des Stromes, sich möglichst rasch ins Meer zu ergießen, das heißt dem Ort und Zeitpunkt seiner großen Reinigung entgegen. Aber auch diese Allegorie ist unzureichend, sie sollte dir lediglich klarmachen, wie die Arten und Ausuferungen der Ketzerei und der diversen Reformbewegungen sich vervielfachen und ineinanderfließen, wenn der Strom die Dämme durchbricht. Du kannst mein dürftiges Bild auch um das einer Gruppe von Männern bereichern, die nach Kräften bemüht sind, die Dämme zu reparieren, aber meistens vergeblich. Einige Seitenarme des Deltas versickern auch wieder oder können zugeschüttet werden, andere werden durch rasch ausgehobene Kanäle in den Hauptarm zurückgeleitet, wieder andere läßt man frei dahinfließen, schließlich kann man nicht alles eindämmen, und es ist gut für den Strom, einen Teil seines Wassers zu verlieren, wenn er seine Grundrichtung beibehalten, wenn er einen erkennbaren Verlauf haben will.«
    »Ich verstehe immer weniger.«
    »Zugegeben, ich bin wohl nicht sehr begabt im Erfinden von Allegorien. Vergiß die Geschichte vom Strom. Versuche lieber zu verstehen, daß viele der Bewegungen, deren Namen du aufgezählt hast, vor mindestens zweihundert Jahren entstanden sind und heute kaum noch existieren, andere dagegen sind noch recht jung …«
    »Aber wenn man von Ketzern spricht, meint man sie immer alle gemeinsam.«
    »Ja, aber das ist eine der Arten, wie die Ketzerei sich verbreitet, und es ist zugleich eine der Arten, wie sie zerstört wird.«
    »Ich verstehe schon wieder nicht.«
    »Mein Gott, ist das schwer zu erklären! Also gut, fangen wir noch einmal neu an. Stell dir vor, du wärst ein Reformator, ein Erneuerer der Lebensformen. Du versammelst ein paar Getreue, um mit ihnen auf dem Gipfel eines Berges in Armut zu leben. Es dauert nicht lange, und viele Menschen strömen herbei, auch von weither, um dich als einen Propheten oder neuen Apostel zu verehren und dir nachzufolgen. Kommen sie wirklich nur deinetwegen, aufgrund deiner Predigt?«
    »Ich weiß nicht, ich hoffe doch. Warum sonst?«
    »Vielleicht weil sie von ihren Eltern Geschichten über andere Reformatoren gehört haben und Legenden über mehr oder minder vollkommene Bruderschaften, und nun meinen sie, diese sei jene und jene sei diese.«
    »Demnach erbt also jede neue Bewegung die Kinder der älteren?«
    »Sicher, denn ihren größten Zulauf erhält sie immer von Laien, einfachen Leuten, die von den Feinheiten der theologischen Lehre nichts verstehen. Gleichwohl entstehen solche Reformbewegungen an verschiedenen Orten, auf verschiedene Weise und mit sehr

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