Der Name der Rose
kostbare Reliquien hervorgehen aus den Resten anderer heiliger Gegenstände …
Doch in jenem Augenblick, als ich Salvatore zum ersten Mal sah und hörte, schien er mir nicht unähnlich jenen wüsten Bastarden, die ich gerade am Kirchenportal gesehen hatte. Später bemerkte ich, daß er offenbar ein gutes Herz besaß und einen skurrilen Humor. Und noch später … Aber bleiben wir bei der Reihenfolge. Auch weil, kaum daß Salvatore geendet hatte, mein Meister ihn scharf ins Auge faßte und fragte:
»Warum hast du penitenziagite gesagt?«
»Domine frate magnificentissimo«, antwortete Salvatore mit einer kleinen Verbeugung, »Jesus venturus est, und die Menschen müssen doch facere penitentia. Oder?«
William sah ihm fest in die Augen: »Kommst du aus einem Minoritenkloster?«
»No capito.«
»Ich frage dich, ob du unter den Mönchen des heiligen Franziskus gelebt hast. Ich frage dich, ob du Bekanntschaft gemacht hast mit den sogenannten Apostlern …«
Salvatore erbleichte, beziehungsweise sein braungebranntes Fratzengesicht wurde grau. Er machte eine tiefe Verbeugung, bekreuzigte sich devot, murmelte etwas von »vade retro« und rannte davon, nicht ohne sich mehrfach umzublicken.
»Was habt Ihr ihn gefragt?« wollte ich wissen.
William verharrte einen Augenblick in Gedanken, strich sich dann mit der Hand über die Schläfe und sagte: »Nichts. Ich sag's dir später. Laß uns nun in die Kirche gehen. Ich möchte Ubertin sehen.«
Es war kurz nach der sechsten Stunde. Die Sonne stand bleich im Westen und erhellte das Kircheninnere nur durch ein paar schmale Fenster. Ein dünner Strahl traf gerade noch den Hochaltar und ließ den Baldachin in einem goldenen Schimmer erglänzen. Die Seitenschiffe lagen in tiefem Schatten.
Im linken Seitenschiff, nahe der letzten Kapelle vor dem Altar, stand eine zierliche Säule, darauf eine steinerne Muttergottes, geformt im modernen Stil, die Lippen umspielt von einem unbeschreiblichen Lächeln, der Leib vortretend, das Kind im Arm, gekleidet in ein anmutiges Gewand mit feinem Korsett. Zu Füßen der Säule lag, im Gebet versunken und fast prosterniert, ein Mann in der Tracht des Cluniazenserordens.
Wir traten näher. Der Mann, aufgeschreckt durch das Geräusch unserer Schritte, hob den Kopf. Es war der Kopf eines Greises, bartlos und kahl, die Augen groß und hellblau, die Lippen dünn und rot, die Haut schneeweiß und faltig um einen knochigen Schädel hängend als handle es sich um eine in Milch konservierte Mumie. Die weißen Hände mit ihren langen und schmalen Fingern vervollständigten den Eindruck eines welken, im zarten Alter dahingerafften Mädchens. Sein Blick schien zunächst verwirrt, als hätten wir ihn in einer ekstatischen Vision gestört, doch plötzlich erhellten sich seine Züge in freudiger Überraschung.
»William!« rief er aus. »Mein liebster Bruder William!« Der Greis erhob sich mit Mühe, trat meinem Herrn entgegen, umarmte ihn und küßte ihn auf den Mund. »William!« rief er noch einmal, und seine Augen füllten sich mit Tränen. »Wie lange hab' ich dich nicht gesehen! Aber ich erkenne dich wieder! Wie viele Jahre, wie viele Begebenheiten! Wie viele Prüfungen hat uns der Herr auferlegt!« Er weinte. William erwiderte die Umarmung, sichtlich bewegt. Wir standen vor Ubertin, dem großen Ubertin von Casale.
Ich hatte schon viel von ihm gehört, bereits vor meiner Ankunft in Italien und dann noch mehr bei den Franziskanern am Hofe des Kaisers. Einmal hatte mir sogar jemand gesagt, daß der größte Dichter unserer Epoche, der Florentiner Dante Alighieri, der wenige Jahre zuvor gestorben war, ein großes Gedicht geschrieben habe, ein gewaltiges Epos von Hölle und Paradies, an welchem Himmel und Erde mitgewirkt hätten und dessen Verse (ich konnte sie leider nicht lesen, da sie in der toskanischen Volkssprache abgefaßt waren) auf weite Strecken nichts anderes seien als eine Paraphrase von Abschnitten aus Ubertins Buch Arbor vitae crucifixae . Und das war nicht der einzige Titel dieses bedeutenden Mannes. Doch um dem Leser verständlich zu machen, wie bedeutend er war, muß ich hier etwas weiter ausholen und versuchen, die Ereignisse jener Jahre zu schildern, so gut ich es kann – das heißt, soweit sie mir damals während meines kurzen Aufenthalts in Italien klar wurden aus den verstreuten Bemerkungen meines Lehrers sowie aus den vielen Gesprächen, die er im Verlauf unserer Reise mit Äbten und Mönchen geführt hatte.
Ich will mich
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