Der Name der Rose
bemühen, alles so zu berichten, wie ich es verstanden habe, auch wenn ich nicht sicher bin, ob ich diese Dinge immer richtig darzustellen vermag. Meine Lehrer in Melk pflegten gern zu sagen, es sei für uns Leute aus dem Norden sehr schwer, sich ein klares Bild von den mannigfaltigen religiösen und politischen Wechselfällen in Italien zu machen.
Auf jener Halbinsel, wo die Macht des Klerus offenkundiger war als in jedem anderen Land und wo der Klerus auch offener als in jedem anderen Land seine Macht und seinen Reichtum zeigte, waren seit mindestens zwei Jahrhunderten immer wieder Bewegungen von Männern und Frauen entstanden, die ein Leben in größerer Armut fuhren wollten, in Polemik und aus Protest gegen die korrupten Prälaten, von denen sie manchmal sogar die Sakramente ablehnten, indem sie sich zu autonomen Gemeinden zusammenschlössen, womit sie den Neid und Haß nicht nur der Kirchenoberen, sondern auch des Kaisers, des Adels und der Stadtbürger auf sich zogen.
Dann war der heilige Franz von Assisi gekommen und hatte eine Liebe zur Armut gepredigt, die den Vorschriften der Kirche nicht widersprach, und dank seines Wirkens hatte die Kirche den Aufruf zur Sittenstrenge jener alten Bewegungen schließlich gutgeheißen und sie bereinigt von den Elementen der Unordnung, die sich in ihnen festgesetzt hatten. So hätte nun eine Zeit des Friedens und der Heiligkeit anbrechen können, doch im gleichen Maße, wie der franziskanische Orden wuchs und die besten Männer in seinen Bannkreis zog, wuchs auch seine Macht und sein Hang zu den irdischen Dingen, weshalb immer mehr Franziskaner aufbegehrten und die Brüder zurückführen wollten zur ursprünglichen Reinheit. Was freilich eine recht schwierige Sache war, hatte der Orden doch zur Zeit meines Besuchs in der Abtei schon mehr als dreißigtausend Mitglieder in aller Welt. Aber so war es eben, und viele von diesen Brüdern des heiligen Franz widersetzten sich der Regel, die sich der Orden gegeben hatte, denn, so sagten sie, er habe längst die Formen jener kirchlichen Institutionen angenommen, gegen die er einst angetreten war. Jawohl, und das sei bereits zu Lebzeiten des heiligen Franz geschehen, und seine Worte und Intentionen seien verraten worden! Viele von denen, die so sprachen, entdeckten damals die Schriften eines Zisterziensermönches namens Joachim von Fiore, der zu Anfang des 12. Jahrhunderts in Kalabrien gelehrt hatte und dem ein prophetischer Geist zugeschrieben wurde. In der Tat hatte er die baldige Heraufkunft einer neuen Zeit verkündet, in welcher sich der Geist Christi, der seit langem entartet sei durch das Treiben seiner falschen Apostel, von neuem verkörpern werde auf Erden. Und angesichts der Termine, die Joachim dafür genannt hatte, schien es allen ganz klar, daß er unbewußt vom Orden der Franziskaner gesprochen hatte. Und darüber hatten sich viele Franziskaner sehr gefreut, vielleicht ein wenig zu sehr, jedenfalls kam es dann um die Mitte des letzten Jahrhunderts dazu, daß die gelehrten Doctores der Sorbonne zu Paris die Lehren des Abtes Joachim als Häresie verurteilten. Freilich schien es, daß sie dies hauptsächlich deswegen taten, weil die Franziskaner (und die Dominikaner) zu mächtig zu werden begannen und zu einflußreich in der französischen Universität, weshalb sie als Ketzer beseitigt werden sollten. Was dann allerdings nicht geschah, und das war ein Segen für die Kirche, denn es erlaubte die Verbreitung der Schriften des Thomas von Aquin und des Bonaventura von Bagnoregio, die nun gewiß keine Ketzer waren. Woran man sieht, daß auch in Paris die Ideen verwirrt waren, beziehungsweise daß jemand sie um eigener Ziele willen zu verwirren trachtete. Dies eben ist das Übel, das die Ketzerei dem Volke Christi antut: daß sie die Geister verdunkelt und alle dazu verführt, sich zu Inquisitoren aus Eigennutz zu machen. Und was ich in jenen Tagen in der Abtei miterleben sollte (wovon ich in diesem Buch berichten will), brachte mich zu der Überzeugung, daß es häufig die Inquisitoren sind, die das Übel der Ketzerei erzeugen. Nicht nur in dem Sinne, daß sie Ketzer zu sehen meinen, wo gar keine Ketzer sind, sondern daß sie den verderblichen Keim der Häresie mit so großer Vehemenz unterdrücken, daß viele sich dazu getrieben sehen, an ihr teilzuhaben aus Haß gegen die Unterdrücker. Wahrlich, ein circulus vitiosus, den der Teufel ersonnen hat, Gott schütze uns davor!
Doch zurück zur joachimitischen Ketzerei (wenn es
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