Der Name der Rose
Ende gefunden hätte.«
Eine lange Pause trat ein, dann hörte ich den Abt wieder sprechen, zögernd und mit gebrochener Stimme wie jemand, dem jäh etwas Schlimmes enthüllt worden ist: »Unmöglich … Ihr … Woher wißt Ihr vom Finis Africae? Habt Ihr mein Verbot mißachtet? Seid Ihr in die Bibliothek eingedrungen?«
William hätte natürlich die Wahrheit sagen müssen, aber dann wäre der Abt gewiß über alle Maßen zornig geworden. Andererseits wollte er selbstverständlich nicht lügen. So entschied er sich, auf die Frage mit einer Gegenfrage zu antworten: »Hochwürden, sagtet Ihr nicht in unserem ersten Gespräch, einem Manne wie mir, der Euren Rappen Brunellus so genau zu beschreiben vermochte, ohne ihn jemals gesehen zu haben, werde es sicher nicht schwerfallen, in seine Gedanken Orte mit einzubeziehen, zu denen er keinen Zugang hat?«
»Ah, so verhält es sich also«, sagte der Abt erleichtert. »Doch wie seid Ihr auf Eure Gedanken gekommen?«
»Es würde zu lange dauern, Euch das zu erzählen. Jedenfalls ist hier eine Serie von Untaten begangen worden, um zu verhindern, daß etwas ans Licht kommt, das nach dem Willen des Täters im dunkeln bleiben soll. Und inzwischen sind alle, die etwas wußten von den Geheimnissen der Bibliothek, sei's durch ihr Amt oder durch verbotene Schliche, tot. Nur einer lebt noch: Ihr.«
»Wollt Ihr insinuieren … wollt Ihr insinuieren …« Der Abt sprach wie einer, dem die Halsadern anschwellen.
»Mißversteht mich nicht«, beschwichtigte ihn mein Meister, der vermutlich in der Tat etwas hatte insinuieren wollen. »Ich meine, es gibt hier jemanden, der Bescheid weiß und nicht will, daß außer ihm noch jemand anders Bescheid weiß, und Ihr seid jetzt der letzte, der außer ihm noch Bescheid weiß. Ihr könntet mithin das nächste Opfer sein … Es sei denn, Ihr sagt mir jetzt, was Ihr wißt über jenes verbotene Buch. Und vor allem: wer hier soviel weiß wie Ihr, wenn nicht gar noch mehr, über die Bibliothek …«
»Es ist kalt hier drinnen«, sagte der Abt. »Gehen wir lieber hinaus.«
Rasch verzog ich mich von meinem Horchposten an der Tür und wartete auf die beiden am oberen Ende der Treppe. Der Abt sah mich auf den Stufen sitzen und lächelte.
»Wieviel Beunruhigendes muß dieser arme Novize hier in den letzten Tagen gehört haben! Kopf hoch, Knabe, laß dich nicht zu sehr verwirren! Mir scheint, dein Meister sieht mehr Verwicklungen, als vorhanden sind.«
Er hob seine rechte Hand und ließ im Sonnenlicht einen kostbaren Ring erglänzen, den er als Zeichen seiner Macht am Ringfinger trug. Das Kleinod funkelte in der vollen Pracht seiner Edelsteine.
»Erkennst du ihn?« fragte er mich. »Er ist das Symbol meiner Macht, aber auch meiner Bürde. Kein Schmuck, sondern vielmehr ein leuchtendes Sinnbild des göttlichen Wortes, dessen Hüter ich bin.« Sanft streichelten seine Finger den Stein, will sagen das Gebirge der farbigen Steine, aus welchen dieses Meisterwerk menschlicher Kunst und gewachsener Natur bestand. »Hier der Amethyst«, erklärte er, »ein Spiegel der Demut, der uns an die Schlichtheit und Güte des Sankt Matthäus erinnert; hier der Chalzedon, Signum der Caritas, Symbol der Frömmigkeit Josephs und Sankt Jakobus' des Älteren; hier der Jaspis, Emblem des Glaubens, wird mit Sankt Petrus verbunden; hier der Sardonyx, Zeichen des Märtyrertums, gemahnt uns an Sankt Bartholomäus; hier der Saphir, Hoffnung und Kontemplation, Stein des Sankt Andreas und des Sankt Paulus; hier der Beryll, rechte Lehre, Wissenschaft, Großzügigkeit, ureigenste Tugenden des Sankt Thomas … Wie herrlich ist die Sprache der Edelsteine!« rief der Abt hingerissen, entrückt wie in einer Vision. »Die Steinschneider der Überlieferung gewannen sie aus der Amtstracht des Aaron und aus der Beschreibung des Himmlischen Jerusalem im Buche der Offenbarung; sind doch die Mauern Zions mit den gleichen Juwelen besetzt wie das Brustschild des Bruders Moses', abgesehen von Karfunkel, Achat und Onyx, die im Buche Exodus aufgeführt werden und in der Apokalypse ersetzt worden sind durch Chalzedon, Sardonyx, Chrysopras und Hyazinth.«
William wollte etwas sagen, doch der Abt gebot ihm mit einer Handbewegung zu schweigen. »Ich entsinne mich eines Litanials«, fuhr er fort, »in welchem jeder Stein beschrieben war und gereimt zur Ehre der Heiligen Jungfrau. Von ihrem Verlobungsring hieß es, er sei ein Symbolgedicht voller höherer Wahrheiten, ausgedrückt in der lapidaren Sprache
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