Der Name der Rose
Staubschicht, ein Zeichen dafür, daß sie in regelmäßigen Abständen gereinigt wurden. Auch auf dem Boden lag keinerlei Unrat. Über einem der Türbögen las ich eine gemalte Inschrift: Apocalypsis Iesu Christi . Sie wirkte nicht verblaßt, obwohl die Lettern sehr altertümlich aussahen. Später, als wir in den anderen Räumen ähnliche Inschriften fanden, bemerkten wir, daß sie in Wahrheit eingraviert waren, sogar recht tief in den Stein geschnitten und dann ausgemalt mit einer Farbe, wie man sie für die Fresken auf Kirchen wänden benutzt.
Wir schritten durch einen der Türbögen und gelangten in einen annähernd rechteckigen Raum. Die Wand vor uns hatte ein Fenster, dessen Scheiben jedoch nicht aus Glas, sondern aus hauchdünn geschliffenem Alabaster waren. Links führte uns ein Türbogen von der gleichen Art, wie wir ihn soeben durchschritten hatten, in einen weiteren Raum, der ebenfalls vier Wände hatte, eine davon wieder mit einem Fenster und eine mit einem weiteren Durchgang. Beide Räume trugen ähnliche Inschriften über dem Türbogen wie der erste, nur daß die Texte anders lauteten: der eine hieß Super thronos viginti quatuor 41 , der andere Nomen illi mors 42 . Ansonsten waren die Räume zwar kleiner (und wie gesagt nicht sieben-, sondern viereckig), aber genauso möbliert wie der erste: Schränke voller Bücher und in der Mitte ein Tisch.
Wir gingen weiter in den nächsten Raum. Er war leer und trug keine Inschrift. Unter dem Fenster stand ein kleiner Altar aus Stein. Hier gab es drei Türen; durch die eine waren wir gekommen, die zweite öffnete sich zu dem siebeneckigen Innenraum, den wir schon kannten, die dritte führte in einen neuen Raum, nicht unähnlich den bisherigen, aber mit der Inschrift Obscuratus est sol et aer 43 . Von ihm aus gelangten wir zu einem fünften rechteckigen Raum mit der Inschrift Facta est grando et ignis 44 . Hier gab es keine weitere Tür.
»Überlegen wir«, sagte William. »Fünf rechteckige oder leicht trapezförmige Zimmer, jedes mit einem Fenster, umgeben den siebeneckigen fensterlosen Innenraum, in den die Treppe mündet. Das scheint mir elementar. Wir befinden uns im Ostturm. Jeder Eckturm des Aedificiums hat von außen gesehen fünf Seiten, jede davon mit einem Fenster. Ja, die Sache ist klar. Das leere Zimmer geht genau nach Osten, in dieselbe Richtung wie der Chor der Kirche, die Strahlen der Morgensonne fallen auf den Altar, wie es sich gehört und frommt. Der einzige raffinierte Einfall ist die Sache mit den Alabasterscheiben: Bei Tage filtern sie das grelle Sonnenlicht zu einem milden Schimmer, bei Nacht lassen sie nicht einmal das Mondlicht durchscheinen. Sehr labyrinthisch ist die Anlage bisher nicht. Komm, laß uns sehen, wohin die anderen Türen aus dem Siebeneck führen. Ich denke, wir werden uns leicht zurechtfinden.«
Er irrte, die Erbauer der Bibliothek waren einfallsreicher gewesen, als er geglaubt hatte. Ich weiß nicht, wie es kam, aber als wir den Ostturm verließen, wurde die Abfolge der ineinandergehenden Räume wirrer. Einige hatten zwei, andere drei Türbögen. Jeder hatte ein Fenster, auch wenn wir ihn aus einem Raum mit Fenster betraten und meinten, er müsse im Innern des Aedificiums liegen. In jedem fanden wir stets die gleiche Art von Bücherschränken und Tischen, und die säuberlich aufgereihten Bände sahen allesamt gleich aus, was uns ein Wiedererkennen schon betretener Räume nicht gerade erleichterte. Wir versuchten, uns an den Inschriften zu orientieren. Einmal hatten wir einen Raum durchquert, in welchem In diebus illis 45 über der Tür stand, und nach einiger Zeit war uns, als hätten wir ihn wieder erreicht. Doch dann fiel uns ein, daß beim ersten Mal die Tür gegenüber dem Fenster zu einem Raum mit der Inschrift Primogenitus mortuorum 46 geführt hatte, und diesmal stand dort Apocalypsis Iesu Christi , aber es war nicht der siebeneckige Treppenraum, in dem wir unsere Erkundung begonnen hatten. Offenbar wiederholten sich manche Inschriften mehrmals. So fanden wir auch zwei nahe benachbarte Räume, in denen beide Male Apocalypsis Iesu Christi stand, und gleich darauf folgte einer mit Cecidit de coelo stella magna 47 .
Woher diese kurzen Texte stammten, war klar, es handelte sich um Satzfragmente aus der Offenbarung Johannis. Keineswegs klar war indessen, warum sie über den Türbögen standen und in welcher Ordnung sie auf die Räume verteilt waren. Unsere Verwirrung wuchs noch, als wir entdeckten, daß einige
Weitere Kostenlose Bücher