Der Nebelkönig (German Edition)
Kind?«
»Nein, Vater. Du weißt, dass
ich dort draußen nichts finden konnte, was ich nicht schon besitze. Du allein
hütest das, was ich mehr als alles andere begehre.« Seine Augen richteten sich
hoffnungsvoll auf den alten Mann. »Hast du deinen Sinn geändert? Wirst du mir
nun geben, wonach ich verlange?«
Der Alte schwieg und
betrachtete die Rose in seiner Hand. Die kräftigen Dornen hatten sich tief ins
Fleisch gebohrt, und ein Blutstropfen quoll aus seinem Daumen. »Nein, mein geliebtes
Kind«, flüsterte er. »Es tut mir leid, aber – nein.«
»Ich bitte dich auf meinen
Knien darum, Vater«, beharrte der Jüngere. Er ergriff die Hand des alten Mannes
und sank auf ein Knie nieder.
»Nein«, wiederholte der Alte
hilflos und dennoch fest. »Steh auf, mein Kind, erniedrige dich nicht vor mir,
ich bitte dich. Ich kann deinem Begehren nicht entsprechen, das weißt du.
Bitte, mein Sohn, erhebe dich!«
Der Miene des jungen Mannes
verschloss sich. Der alte Mann beobachtete, wie das vertraute Gesicht des
Jüngeren sich veränderte. Er hob mit einer bittenden Geste die Hände, und die
Rosenblüte fiel lautlos auf den Weg nieder.
Der Wolf riss ihn ohne
Erbarmen nieder und zerfetzte seine Kehle. Die Augen des Alten blickten weit
geöffnet in die strahlende Morgensonne. Der Wolf leckte seine blutigen Lefzen
und verwandelte sich zurück in seine menschliche Gestalt. Ohne Bedauern oder
Trauer blickte er auf den alten Mann nieder.
»Ich brauche dich nicht mehr.
Ich bin jetzt stärker und mächtiger, als du jemals warst, mein Vater. Ich benötige
dein schäbiges Geheimnis nicht länger, um ewig zu leben.«
Der Alte lächelte. Aus seiner
zerfetzten Kehle rann das Blut und tränkte das dunkle Moos rund um seinen Leib.
Er hob die Hand und deutete auf den mörderischen Jüngling.
»Du irrst dich«, flüsterte er.
Seine Augen begannen sich zu verschleiern. »Du bist verflucht für alle Zeiten.
Eines meiner Kinder wird dich bannen und eines meiner Kinder wird dich
vernichten. Ich trauere um dich, mein Sohn.«
Er starb lächelnd, und im Tode
verwandelte sich sein Körper. Schimmernde silberne und goldene Schuppen bedeckten
den schlangenartigen Leib. Mächtige Krallen und ein starker Schweif, der im
Todeskampf um sich schlug, rissen weithin den Boden auf. Die smaragdfarbenen
Augen in dem weisen Löwengesicht spiegelten gebrochen das Licht des Sommermorgens.
Der letzte der alten Drachen
war tot, und zwischen seinen schwarzen Klauen lag zerfetzt eine blutrote
Rosenblüte.
Der Jüngling, der
schreckerfüllt zu Boden gesunken war, stand schwankend auf. Er blickte lange
auf den toten Drachen nieder, dann hob er in einer befehlenden Geste die Hände
und zischelte einen Spruch. Ein Blitz ließ das Sonnenlicht verblassen. Der Leib
des letzten Drachen verbrannte mit gleißender Flamme.
Der junge Mann beugte sich
herab und hob einen grünen Kristall aus der Asche auf. Er polierte ihn an
seinem Ärmel und lächelte. Dann hielt er ihn ins Licht und ließ seinen Glanz
auf sein emporgewandtes Gesicht fallen.
»Dein Auge verleiht mir ewiges
Leben, mein Vater. Ich fürchte deinen Fluch nicht. Du warst der Letzte deines Geschlechts,
ohne Nachkommen, ohne Erben. Ich allein bin dein Sohn und Erbe, mein Vater, und
die Welt soll vor dem Sohn des Drachen erzittern.« Er lachte, warf den Kristall
hoch in die Luft und fing ihn wieder auf. Ohne einen Blick des Bedauerns und
ohne Abschied ging er von dem Haus fort, das seine Heimat gewesen war.
Im Gras zwischen den Rosen
funkelte eine silbrige Schuppe des toten alten Drachen.
1
Sallie seufzte laut und
klappte das Buch zu. Sie putzte sich energisch die Nase. Der Bibliothekar, der
auf seinem altersschwachen Lehnstuhl kauerte, gluckste erschreckt und sah sie
vorwurfsvoll aus einem seiner runden Augen an.
»Entschuldige, Uhl«, sagte
Sallie erstickt. Sie schnaubte noch mal in ihre nicht ganz saubere Schürze und wischte
sich mit dem Ärmel die Augen trocken.
Der Bibliothekar gähnte und
rieb sich dann mit einem dürren, krummen Finger über die Lider. »Es ist schon
spät«, sagte er und gähnte noch einmal. »Sehen wir uns morgen wieder?«
Sallie erhob sich, wobei der
schwere Stuhl laut über die Steinplatten des Bodens scharrte, und hob das Buch
auf. »Ich weiß noch nicht«, sagte sie und suchte nach der richtigen Stelle im
Regal. »Die Geschirrmamsell will morgen das Silber putzen.« Ihre Augen glitten
gedankenverloren über die matt blinkenden, gold und
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