Der Neue Frühling
anderen Person fühlen und in eine offen stehende Tür oder einen Torbogen tauchen, bevor man ihn sehen konnte. Er hätte ein Geist sein können.
Anya und Esne befolgten mittlerweile erst Edeyns Befehle und dann die seinen, als würden sie glauben, dass sie damit die Bräuche der Malkieri befolgten. Möglicherweise hatte sie ihnen das sogar gesagt. Bukama blieb loyal, zumindest glaubte er das, aber er ging davon aus, dass jeder in Aesdaishar, der eine Livree trug, Edeyn verraten würde, wo er zu finden war. Er glaubte zu wissen, wo er sich gerade befand. Trotz früherer Besuche hatte er sich ohne Führung zweimal verlaufen, und nur sein Orientierungssinn hatte ihn den Weg wieder finden lassen. Er kam sich wie ein Narr vor, weil er sein Schwert trug. Stahl nützte in dieser Schlacht nichts. Aber ohne sein Schwert kam er sich nackt vor, und wenn er sich etwas nicht erlauben konnte in der Auseinandersetzung mit Edeyn, dann war es eine Blöße.
Eine rasche Bewegung, und er drückte sich hinter der Statue einer in Wolken gekleideten Frau mit Armen voller Blumen flach an die Wand. Gerade noch rechtzeitig. Zwei Frauen kamen aus dem kreuzenden Korridor vor ihm und blieben in ein Gespräch vertieft stehen. Iselle und die Aes Sedai Merean. Er blieb so reglos wie der Stein, hinter dem er sich versteckte. Bewegungen erregten Aufmerksamkeit.
Es gefiel ihm nicht, herumzuschleichen, aber während Edeyn den Knoten in seinem Daori löste, mit dem sie ihn zwei Tage gefangen gehalten hatte, hatte sie auch deutlich gemacht, dass sie seine Heirat mit Iselle bald bekannt geben würde. Bukama hatte Recht gehabt. Edeyn benützte seinen Daori wie einen Zügel. Den Bräuchen nach würde der größte Teil ihrer Macht über ihn enden, sobald Iselle das Band aus seinem Haar in ihrem Besitz hatte, es würde nicht mehr als eine Erinnerung an die Vergangenheit sein, aber er war davon überzeugt, dass Edeyn ihre Tochter an seiner statt benützen würde. Und Iselle würde gehorchen. Er bezweifelte, dass sie die Kraft hatte, sich offen gegen ihre Mutter zu stellen. Stand man einem Gegner gegenüber, den man nicht besiegen konnte, blieb einem nur eine Möglichkeit: man musste fliehen, es sei denn, der Tod konnte einem größeren Zweck dienen, und er verspürte große Lust zur Flucht. Nur Bukama hielt ihn hier. Bukama und ein Traum.
Nach einer brüsken Bewegung von Merean nickte Iselle eifrig und ging den Weg zurück, den sie gekommen waren. Merean sah ihr einen Moment nach, aber ihrem gleichmütigen Gesicht mit seiner Aes Sedai-Ruhe war nichts zu entnehmen. Dann folgte sie ihr überraschend und in einer Weise geschmeidig, gegen die Iselle unbeholfen wirkte.
Lan vergeudete keine Zeit damit, sich zu fragen, was Merean im Schilde führte, genauso wenig wie er sich gefragt hatte, warum Moiraine über jeden ihrer Schritte informiert sein wollte. Ein Mann konnte den Verstand verlieren, wenn er ergründen wollte, was Aes Sedai vorhatten. Moiraine musste wirklich eine von ihnen sein, andernfalls hätte Merean dafür gesorgt, dass sie kreischend durch die Flure rannte. Er wartete lange genug, bis die beiden nicht mehr zu sehen sein würden, dann ging er lautlos zur Ecke und spähte herum. Sie waren beide verschwunden, daher lief er hastig weiter. Aes Sedai kümmerten ihn heute nicht. Er musste mit Bukama reden. Über Träume.
Wenn er weglief, würde er Edeyns Heiratspläne durchkreuzen. Wenn er ihr lange genug aus dem Weg ging, würde sie einen anderen Mann für Iselle finden. Wenn er weglief, würde er auch Edeyns Pläne durchkreuzen, Malkier zurückzuerobern; ihre Unterstützung würde schwinden wie Nebel unter der Mittagssonne, wenn die Leute erfuhren, dass er fort war. Wenn er weglief, würde das für viele Träume das Ende bedeuten. Aber der Mann, der einen Säugling auf dem Rücken getragen hatte, hatte ein Anrecht auf seine Träume. Die Pflicht war ein Berg, aber er musste getragen werden.
Vor ihm lag eine breite Treppe mit einem Geländer aus Stein. Er wollte hinuntergehen, und plötzlich fiel er. Er hatte gerade noch Zeit, sich schlaff zu machen, dann kullerte er von Stufe zu Stufe, überschlug sich, landete mit einem Aufprall auf dem Fliesenboden unten, der ihm den letzten Rest Luft aus den Lungen trieb. Funken tanzten vor seinen Augen. Er kämpfte um Luft, wollte sich aufrichten.
Diener kamen aus dem Nichts und halfen ihm auf die Füße, alle riefen durcheinander, was für ein Glück er habe, sich bei so einem Sturz nicht den Hals zu brechen,
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