Der siebte Turm 01 - Sturz in die Dunkelheit
KAPITEL NULL
Tal streckte die Hand nach oben und zog sich auf die nächst höhere der waagerecht aus dem Turm ragenden Spitzen. Einen Moment hielt er dort inne, um wieder zu Atem zu kommen. Er sah am Roten Turm hinab zu den blitzenden Lichtern, die die Umrisse des riesigen Schlosses markierten. Sie waren so weit entfernt, dass Tal schwindlig wurde. Schnell blickte er wieder nach oben.
Der Wind war viel stärker, als Tal erwartet hatte. Er heulte am Roten Turm vorbei, wirbelte um die anderen sechs Türme und kam dann noch mächtiger wieder zu ihm zurück. Außerdem wurde es immer kälter, was das Klettern nicht gerade erleichterte. Lediglich Tals Sonnenstein hielt die schlimmste Kälte ab.
Tal war nun schon zwei Stunden unterwegs gewesen – eine anstrengende Kletterpartie zwischen den Spitzen, Gargoyles und Verzierungen, die den Turm bedeckten. Jetzt befand er sich nur noch ein paar Züge unterhalb des Punktes, an dem der Turm schlagartig zu enden und an das tiefschwarze Dach der Nacht zu stoßen schien.
Dort lag der Schleier, die rätselhafte Barriere, die die ganze Welt in Dunkelheit tauchte, indem sie das Licht der Sonne fern hielt.
Doch es war nicht völlig dunkel um Tal. Wie der größte Teil des Schlosses, so wurde auch das Innere des Roten Turms von kleinen Sonnensteinen an den Wänden und Decken beleuchtet. Das Licht dieser Steine drang durch die Fenster nach draußen und so konnte Tal sehen, wohin er kletterte. Auch die anderen Türme strahlten hell – ein wirres Muster aus gleißenden Blitzen am Himmel.
Das Licht im Innern der Türme erzeugte draußen dunkle Formen. Jeder Gargoyle und jeder Vorsprung am Mauerwerk warf einen dunklen Schatten auf die ockerfarbenen Außenmauern des Turmes. Auch Tal warf einen solchen Schatten. Wie bei allen Erwählten des Schlosses bildete sein Schatten aber nicht die Umrisse seines Körpers ab. Der Schatten, der ihn begleitete, bewegte sich eigenständig und veränderte sich immer wieder. Manchmal hatte er die Form eines dreizehnjährigen Jungen, manchmal die einer Katze oder eines zweiköpfigen Corvilen. Und manchmal waren seine Bewegungen so fließend, dass man seine Form nicht beschreiben konnte.
Tals Schatten war nicht der, mit dem er geboren worden war. Es war ein Schattenwächter, ein magisches Wesen aus der Geistwelt von Aenir. Er war bei Tals Geburt an ihn gebunden worden und ersetzte seitdem Tals richtigen Schatten. Seine Aufgabe war es, Tal zu beschützen und ihm zu helfen. Tal war das nur recht. Es war für ihn schon schlimm genug, wenn er seine schlaksigen Glieder und zerzausten Haare im Spiegel sehen musste. Er war mehr als froh, dass sie ihm nicht auch noch als Schatten folgten.
Der Schattenwächter ließ nicht erkennen, dass Tal kleiner als die meisten Jungen seines Alters war. Er zeigte auch nicht Tals leicht schräges Lächeln, das ihn – wie er selbst fand – ein wenig dämlich aussehen ließ. Außer ihm selbst dachte das eigentlich niemand, doch ihm machte es etwas aus. Er hatte immer wieder stundenlang vor dem Spiegel zu lachen geübt und dabei versucht, das leichte Hängen seines linken Mundwinkels auszugleichen.
Es störte ihn hingegen nicht, dass der Schattenwächter nur einer der schwächsten Geister von Aenir war. Er war der Diener eines Kindes. Wenn Tal in zwei Monaten dreizehn dreiviertel wurde, dann würde er selbst Aenir betreten und einen echten Geistschatten an sich binden, der ihm dann zu dienen hatte.
Wenn er überhaupt jemals in die Lage kam, nach Aenir einzutreten. Tal umfasste den kleinen Sonnenstein an seiner silbernen Halskette und spürte, wie die Wärme in seine kalten Hände drang. Um nach Aenir zu gelangen, brauchte er einen Erhabenen Sonnenstein. Nicht nur für sich selbst, sondern auch für seine Mutter, seinen jüngeren Bruder und seine jüngere Schwester.
Seit seine Mutter krank und sein Vater mit den Sonnensteinen der Familie auf mysteriöse Art und Weise verschwunden war, musste Tal sich um die Familie kümmern. Er war zwar nicht darauf vorbereitet gewesen, hatte jedoch keine andere Wahl gehabt. Er musste seine Angst tief in sein Inneres drängen und sie dort verstecken. Er musste stark sein, auch wenn er nicht wusste, woher er die Kraft nehmen sollte.
Er wollte, dass sein Vater zurückkehrte. Er wollte, dass seine Mutter wieder gesund wurde. Doch wenn er jetzt versagen würde, hätte er beide für immer verloren.
Um seine Familie zu retten, musste er einen neuen Sonnenstein finden. Einen
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