Der Neue Frühling
größer als seine Aes Sedai, machte er einen jugendlichen Eindruck. Bis man seine Augen betrachtete.
Moiraine schnappte unwillkürlich nach Luft, ihre Verlegenheit war vergessen, und das nicht wegen Andros reglosem Blick. Eine Schwester und der mit ihr durch den Bund vereinte Behüter konnten die Gefühle und den körperlichen Zustand des anderen spüren, und jeder wusste ganz genau, wo sich der andere aufhielt – solange sie nahe genug beieinander waren –, oder kannte zumindest die Richtung, wenn sie weit voneinander getrennt waren, aber das hier schien schon fast so etwas wie Gedankenlesen zu sein. Manche behaupteten, eine erhobene Schwester könnte das tun. Immerhin gab es viele Dinge, die einem nicht beigebracht wurden, bevor man die Stola errungen hatte. Wie zum Beispiel das Gewebe für die Verbindung mit einem Behüter.
Meilyn sah ihr direkt in die Augen. »Nein«, sagte sie leise, »ich kann seine Gedanken nicht lesen.« Moiraines Kopfhaut prickelte, als wollte sich ihr Haar sträuben. Es musste die Wahrheit sein, da Meilyn es gesagt hatte, und dennoch ... »Wenn man lange genug mit seinem Behüter zusammen ist, dann weiß man, was er denkt, und er wird wissen, was man selber denkt. Eine Sache der Interpretation.« Elaida schnaubte, wenn auch nur leise. Von allen Ajahs verzichteten allein die Roten darauf, sich mit Behütern zu verbinden. Die meisten Roten schienen sowieso alle Männer zu verabscheuen.
»Betrachtet man es mit Logik«, sagte Meilyn, und ihr gelassener Blick richtete sich auf die andere Schwester, »benötigen die Roten einen Behüter noch viel dringender als alle anderen mit Ausnahme der Grünen, vielleicht sogar noch dringender als die Grünen. Aber wie dem auch sei. Die Ajahs entscheiden nach freiem Willen.« Sie hob die fransenverzierten Zügel. »Kommt Ihr, Elaida? Wir müssen so viele Kinder wie möglich erreichen. Einige von ihnen werden sicherlich den Kopf verlieren und zu lange verweilen, wenn man sie nicht daran erinnert. Denkt dran, Kinder; vor Einbruch der Dunkelheit.«
Moiraine erwartete von Elaida irgendeine Art von Ausbruch, oder zumindest ein wütendes Aufblitzen in ihren Augen. Die Bemerkung über Behüter war einer Verletzung der Regeln über Ehrerbietung und Privatsphäre, die das Leben der Schwestern bestimmten, sehr nahe gekommen, die vielen Regeln, die besagten, was eine Aes Sedai zu einer anderen sagen oder um was sie sie bitten konnte oder nicht. Es handelte sich dabei nicht um Gesetze, sondern um Konventionen, die stärker als Gesetze waren, und jede Aufgenommene musste sie auswendig lernen. Überraschenderweise drehte Elaida ihre braune Stute nur herum und folgte ihr.
Siuan sah zu, wie die beiden Schwestern gefolgt von Andro das Lager verließen, und stieß einen erleichterten Seufzer aus. »Ich hatte schon Angst, sie bleibt, um uns zu überwachen.«
»Ja«, erwiderte Moiraine. Überflüssig zu erwähnen, welche Frau Siuan meinte. Es hätte genau Elaidas Charakter entsprochen. Nichts von dem, was sie auch taten, konnte ihrem Anspruch auf absolute Perfektion entgehen. »Aber warum ist sie es nicht?«
Siuan wusste darauf keine Antwort, und es war sowieso keine Zeit, das zu diskutieren. Da sie und Moiraine ihre Mahlzeit offensichtlich beendet hatten, hatten die Frauen sich bereits wieder in den Reihen eingefunden. Und nach Meilyns und Elaidas Besuch schienen sie auch nicht länger davon überzeugt zu sein, dass die beiden Aes Sedai waren. Jetzt reichten ein strenger Blick und ein energischer Tonfall nicht mehr aus, um eine Diskussion im Keim zu ersticken. Falls nötig brüllte Siuan auch schon einmal los, was öfter der Fall war, und strich sich frustriert durch das Haar. Moiraine musste dreimal drohen, überhaupt keine Namen mehr aufzuschreiben, damit eine Frau die Reihe verließ, deren Kind offensichtlich zu alt war. Vielleicht wäre sie schwankend geworden, hätte eine von ihnen Susa geähnelt, aber sie waren alle wohlgenährt und offensichtlich nicht ärmer als andere, sondern bloß gierig.
Um die Sache noch abzurunden, führte Steler mit aufgesetztem Helm sein Pferd am Zügel heran, als noch etwa ein Dutzend Frauen vor dem Tisch standen. Die anderen Soldaten waren nicht weit hinter ihm; zwei von ihnen hielten die Zügel von Pfeil und Siuans Tier. »Zeit zu gehen«, verkündete Steler mit seiner knirschenden Stimme. »Ich habe so lange gewartet, wie es ging, aber wenn wir noch länger warten, wird es uns schwer fallen, bis Sonnenuntergang wieder in der Burg
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