Der Neue im Sportinternat
anstellen soll, das weiß er noch nicht. Zumindest ist er der fremdgesteuerten Selbstbeschränkung durch seinen Vater auf gewisse Art und Weise ein gutes Stück entflohen, weil er sich nicht dessen antiquierter Ideologie unterworfen hat. Leon wertet das als Unabhängigkeitserklärung im eigenen inneren Aufstand. Das Internat ist die Strafe dafür. Es gibt nur einen einzigen Ausweg, ahnt Leon. Trotz seiner Orientierungslosigkeit muss er sich eine neue Welt erschaffen, nämlich seine eigene! Mag sein, dass es sich dabei lediglich um eine Realität in einer anderen handelt, so was wie ein Paralleluniversum. Das wird die Zeit zeigen. Trotz aller Fragezeichen, die Leon umgeben, weiß er ziemlich gut, wie er seinen persönlichen Zustand nennen könnte: Noch kein richtiger Mann, aber längst kein Junge mehr ... unterwegs zum eigenen Ich!
Wie in Zeitlupe dreht sich Leon zur Seite und wendet sich dem Schloss zu. Es hat was von seinem Vater, findet er. Es ist undurchschaubar, einnehmend, glorifizierend und ebenso bedrohlich. Leon nimmt sein Gepäck und geht zum Eingang. Du bist nicht der Einzige! Vergiss das nie!, hört er in seinen Gedanken Claude noch einmal sagen. Leon weiß nicht wirklich, was Claude damit gemeint hat. Auf jeden Fall klingt es gut und macht irgendwie Mut.
Die große Eingangstür ist verschlossen. Neben dem Türrahmen ist eine Klingel. Oberhalb des Klingelknopfs steht in großen goldenen Buchstaben SPORTINTERNAT SCHLOSS DRACHENFELS. WILLKOMMEN! Leon verzieht angewidert das Gesicht. Da er keine Hand frei hat, presst er den Ellbogen gegen den Klingelknopf. Von innen ertönt ein dumpfes Geläute. Leons Nervosität steigt. Was erwartet ihn hinter der Tür? Als kleiner Junge hat er sich diese Frage immer gestellt, wenn er Morgen für Morgen die 24 Türchen seines Adventskalenders öffnete und sich auf die süße Überraschung aus Schokolade freute.
Freuen wird er sich heute garantiert nicht, so viel steht fest!
Freunde und Feinde
Montagmorgen. 8.01 Uhr. Mit versteinerter Miene steht Leon vor der Tafel im Klassenzimmer. In den Händen hält er jede Menge Schulbücher, die zu einem kleinen Turm vor seiner Brust aufgestapelt sind. Wenn er wollte, könnte er mühelos sein Kinn darauf stützen. Leon fühlt sich, als wäre er zum Appell angetreten. Vor ihm sitzt ein Haufen unausgeschlafener Jungs, die ihn anstarren und teilweise abschätzend in Augenschein nehmen. Zwei Schritte von Leon entfernt gestikuliert Knut Denniger, sein neuer Klassenlehrer, und lobt die Leistung seiner Schützlinge beim gemeinsamen Sportfest vom Vortag mit dem Jungeninternat Amselbach. Nebenbei erwähnt Denniger gönnerhaft, dass er eigens dafür auf seinen arbeitsfreien Sonntag verzichtet hat. Leon schielt zu Denniger rüber und findet, dass der mit seinen Tränensäcken und der schlabberigen Haut am Hals wie ein Truthahn aussieht. Außerdem stinkt er nach Nikotin, weil er Kettenraucher ist. Fast täglich stellt er einen neuen Rekord in Sachen Nikotinkonsum auf. Dementsprechend häufig sind seine Hustenanfälle. Manchmal klingt das, als würde seine Lunge Pfötchen geben wollen! Um den Hustenreiz zu lindern, lutscht Denniger unentwegt Bonbons mit Eukalyptus-Menthol. Dabei macht er laute Lutschgeräusche, was nach einer gewissen Zeit einfach nur nervtötend ist.
»Meine Herren, das hier ist Ihr neuer Klassenkamerad und sportlicher Mitstreiter«, hüstelt Denniger und zeigt auf Leon. »Da wir alle gestern sehr spät zurückkommen sind, werden die wenigsten von Ihnen seine Bekanntschaft gemacht haben. Ich darf Ihnen vorstellen, Leon ... Wie ist noch Ihr Name?«
»Farrell. Leon Farrell!«
»Farrell?« Denniger sieht Leon gedankenvoll an. »Sind Sie etwa mit den Farrells verwandt, die die Fertigmenüs produzieren?«
»Ja. Mein Vater...«.
»Gutes aus der Dose!«, ruft jemand spottend ins Klassenzimmer.
»Falko!«, ermahnt Denniger den Zwischenrufer.
»Der Werbeslogan vom letzten Jahr«, greift Leon den Zwischenruf auf, gibt sich völlig cool dabei und hofft innig darauf, dass er nicht permanent mit den dämlichen Werbeslogans seines Vaters aufgezogen wird. »Das war für 'ne Nudeleintopfsuppe. Gutes aus der Dose für jeden Geschmack!«
»War auch 'n Würstchen drin? In der Dose, meine ich natürlich.« Falko kann die Zwischenrufe nicht lassen und macht sich weiter über Leon lustig.
Durch das Klassenzimmer raunt ein Gekicher.
»Meine Herren!«, ruft Denniger zur allgemeinen Ruhe. »Beim nächsten Zwischenruf erfolgt ein Ausschluss
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