Der Omega-Punkt: Roman (German Edition)
Namen gefragt? Er hatte sie nicht nach ihrem Namen gefragt. Er machte innerlich die Geste des Selbstvorwurfs, den mahnenden Zeigefinger aus einem Zeichentrickfilm mit Lehrer und Kind. Gut, also noch ein Thema, über das er nachdenken konnte. Über Namen nachdenken. Namen aufschreiben. Mal sehen, ob du den Namen vom Gesicht her erraten kannst. Das Gesicht hatte sich etwas aufgehellt, als er von den Zahlen erzählte, die er als Kind im Kopf multiplizierte. Nicht aufgehellt, eher so gelockert, Interesse in ihren Augen. Aber die Geschichte stimmte gar nicht. Er hatte keine großen Zahlen im Kopf multipliziert, nie. Er sagte das nur manchmal, weil er glaubte, so könnte er sich anderen leichter verständlich machen.
Er sah verstohlen auf die Armbanduhr und zögerte nicht, ging hinüber zur Kasse und bezahlte den vollen Preis. Müsste eigentlich ein halber Erwachsenenpreis sein, um diese Uhrzeit, oder umsonst, umsonst müsste es sein. Er blinzelte auf die Eintrittskarte in seiner Hand und hastete in den sechsten Stock, immer zwei Stufen gleichzeitig auf der Rolltreppe, und alle anderen kamen ihm entgegen. Er betrat das dunkle Kabinett. Er wollte in dem Tempo baden, im nahezu statischen Rhythmus des Bildes. Das französische Paar war weg. Eine Person war da und der Aufseher und dann er, hier für die letzte Nicht-mal-mehr-Stunde. Er fand seinen Platz an der Wand. Er wollte vollständig eintauchen, was immer das bedeutet. Dann begriff er, was es bedeutet. Er wollte, dass der Film noch langsamer lief, von Auge und Geist verlangte, sich noch tiefer einzulassen, immer wieder, während das, was er sieht, sich ins Blut hineingräbt, in dichtes Empfinden, und das Bewusstsein mit ihm teilt.
Norman Bates, erschreckend unauffällig, legt den Hörer auf. Er wird das Licht im Motelbüro ausschalten. Er wird über die Stufen des Weges zum alten Haus gehen, wo mehrere Zimmer beleuchtet sind, dahinter dunkler Himmel. Dann eine Reihe Einstellungen aus verschiedenem Blickwinkel, er erinnert sich an die Sequenz, er steht an der Wand und nimmt vorweg. Die echte Zeit ist bedeutungslos. Der Satz ist bedeutungslos. So etwas gibt es nicht. Auf der Leinwand legt Norman Bates den Hörer auf. Der Rest ist noch nicht geschehen. Er sieht voraus, fürchtet, dass das Museum schließen wird, bevor die Szene zu Ende ist. Die Ankündigung wird durch das Museum hallen, in allen Sprachen der größeren Museumsländer, und Anthony Perkins als Norman Bates wird immer noch die Stufen zum Schlafzimmer hochsteigen, wo Mutter seit Langem tot liegt.
Der andere Besucher geht durch die hohe Tür hinaus. Jetzt sind nur noch er und der Aufseher da. Er stellt sich vor, wie auf der Leinwand jegliche Bewegung anhält, das Bild allmählich erschauert und verblasst. Er stellt sich vor, wie der Aufseher seine Handfeuerwaffe aus dem Holster zieht und sich in den Kopf schießt. Dann endet die Vorführung, das Museum schließt, und er ist mit der Leiche des Aufsehers in dem dunklen Raum allein.
Er ist für diese Gedanken nicht verantwortlich. Aber es sind seine Gedanken, oder nicht? Er richtet seine Aufmerksamkeit wieder auf die Leinwand, wo alles so intensiv ist, was es ist. Er beobachtet, was geschieht, und wünscht sich, es möge noch langsamer geschehen, ja, aber im Geist rast er auch voraus zu dem Augenblick, wenn Norman Bates Mutter in ihrem weißen Nachthemd die Treppe hinuntergetragen wird.
Dabei muss er an seine eigene Mutter denken, wie auch nicht, bevor sie verstarb, die beiden in einer kleinen Wohnung, von aufragenden Türmen verschlungen, und da ist der Schatten von Norman Bates, draußen vor der Tür des alten Hauses, der Schatten von innen gesehen, und dann öffnet sich die Tür langsam.
Der Mann entfernt sich von der Wand und wartet darauf, Pore um Pore aufgesogen zu werden, sich in der Figur des Norman Bates aufzulösen, der ins Haus treten und die Treppe hochgehen wird, in unterbewusster Zeit, zwei Bilder pro Sekunde, und sich dann zur Tür von Mutters Zimmer wenden wird.
Manchmal sitzt er an ihrem Bett und sagt etwas und sieht sie an und wartet auf eine Antwort.
Manchmal sieht er sie einfach nur an.
Manchmal kommt Wind auf, vor dem Regen, und schickt Vögel am Fenster vorbei, vorbeisegelnde Vögel des Geistes, die auf der Nacht reiten, seltsamer als Träume.
NACHWEIS
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24 Hour Psycho, eine Videoinstallation von Douglas Gordon, wurde zum ersten Mal 1993 in Glasgow und Berlin gezeigt. Im Sommer 2006 wurde sie im Museum of Modern Art in New
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