Der Pakt
umgehen?«
»Ja. Im Krieg, im letzten Krieg, war ich bei einem finnischen Regiment, das gegen die Russen gekämpft hat.«
»Dann nehmen Sie die hier.« Schellenberg reichte ihm die Mauser; er hatte noch eine in seiner Reisetasche. »Tragen Sie sie in der Manteltasche, für den Fall des Falles. Aber besser nicht in Himmlers Nähe. Er könnte denken, Sie mögen ihn nicht mehr.«
»Danke, Schellenberg. Ist sie geladen?«
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»Es ist Krieg, Kersten. Da empfiehlt es sich, davon auszugehen, dass die meisten Waffen geladen sind.«
Kersten zog vehement an seiner Zigarette und drückte sie dann, erst halb geraucht, im Aschenbecher aus. Er sah unglücklich auf die Mauser in seiner mächtigen Hand und schüttelte dann den Kopf.
»Ich kann ihn nicht heilen, wissen Sie.«
»Wen?«
»Himmler. Er glaubt, er sei krank. Aber wo keine reale Krankheit ist, ist auch keine Heilmethode. Ich kann nur die Symptome lindern – die Kopfschmerzen, die Magenkrämpfe.
Manchmal glaubt er, er hätte Krebs. Hat er aber nicht. Die meiste Zeit führt er seine Symptome auf Überarbeitung oder sogar auf seine schwächliche Konstitution zurück. Aber das stimmt nicht. Physisch fehlt dem Mann gar nichts.«
»Erzählen Sie weiter.«
»Ich traue mich nicht.«
»Von mir haben Sie nichts zu befürchten, Kersten.«
Kersten nickte. »Ich weiß, aber trotzdem.«
»Wollen Sie sagen, er ist psychisch krank?«
»Nein. Doch, in gewisser Weise. Er ist krank vor Schuldgefühlen, Schellenberg. Er ist paralysiert vor Entsetzen über das, was er getan hat und immer noch tut.« Kersten schüttelte den Kopf.
»Und deshalb hat er diese Friedensbemühungen initiiert?«
»Das ist nur ein Grund.«
»Persönlicher Ehrgeiz, vermute ich. Er will die Macht übernehmen?«
»Nein, das ist es nicht. Er ist Hitler gegenüber sogar viel loyaler, als man meinen könnte.«
»Was ist es dann?«
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»Etwas Schreckliches. Ein Geheimnis, das ich keinem Menschen verraten darf. Etwas, was Himmler mir gesagt hat.
Ich kann es Ihnen nicht erzählen.«
Schellenberg goss Drinks ein und lächelte. »Jetzt bin ich aber wirklich neugierig. Na, gut. Nehmen wir mal für einen Moment an, Sie würden es mir sagen, aber nur unter der Bedingung, dass uns jemand anderer einfällt, der es mir gesagt haben könnte.
Jemand, der nicht Himmler ist. Also, wer könnte das sein?« Er reichte Kersten ein Glas Apricot Brandy.
Kersten überlegte kurz und sagte dann: »Morell.«
Schellenberg durchforstete fast ein Minute lang sein Gehirn nach einem Morell, den Kersten kennen könnte. Dann weiteten sich seine Augen.
»Nicht Theodor Morell.«
»Doch.«
»Großer Gott.« Theodor Morell war Hitlers Leibarzt. »Also gut, wenn ich je von der Gestapo gefoltert werden sollte, werde ich sagen, Morell hat es mir gesagt.«
»Ich glaube, jemandem muss ich’s sagen.« Kersten zuckte die Achseln und leerte sein Glas in einem Zug. »Kann ich noch einen haben?«
Schellenberg holte die Flasche und füllte das Glas des Finnen.
»Ich habe Himmler gewarnt, welche Folgen es für das deutsche Volk hauen wird, wenn er nichts unternimmt. Das ist der wahre Grund, warum er Friedensverhandlungen mit den Amerikanern sucht. Er weiß es schon seit Ende letzten Jahres.«
»Hitler ist krank?«
»Schlimmer.«
»Todkrank?«
»Noch schlimmer.«
»Um Himmels willen, Kersten, was ist es?«
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»Im Dezember letzten Jahres, in seinem Haus in der Nähe der Wolfsschanze, holte Himmler ein dreißigseitiges Dossier aus seinem Safe und zeigte es mir. Es war eine streng geheime Akte über Hitlers Gesundheitszustand. Er bat mich, sie zu lesen, da ich Hitler ja auch behandle. Ich las sie und wünschte, ich hätte es nicht getan. Dr. Morell hatte bei Hitler ein Fehlen normaler Reflexe festgestellt, das auf eine Degeneration der Nervenfasern des Rückenmarks hindeutet, vielleicht sogar auf den Beginn einer progressiven Paralyse.«
»Sprechen Sie weiter.«
»Morell hielt es für tabes dorsalis, auch lokomotorische Ataxie genannt.« Kersten zündete sich eine Zigarette an und starrte grimmig auf das glühende Ende. »Eine metaluetische Entzündung der Rückenmarkswurzeln.«
»Guter Gott!«, rief Schellenberg. »Wollen Sie sagen, der Führer hat Syphilis?«
»Nicht ich, um Himmels willen. Nicht ich. Morell hat es gesagt. Und es war nur ein Verdacht. Keine gründliche Diagnose. Dafür wären Blutuntersuchungen nötig und eine Untersuchung der Genitalien.«
»Aber wenn es stimmt?«
Kersten seufzte laut. »Wenn es
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