Der Parasit: Kurzgeschichte
Dank.
»Er streckte den Arm aus dem Schiebedach.« Sie nickte in Kirks Richtung. »Und er hat die Kinder angeschrien, sie sollen verdammt noch mal aus dem Weg gehen.«
»Ich wollte doch nur, dass sie sich in Sicherheit bringen.« Kirk starrte mich an, als sei ich derjenige gewesen, der unbedingt einen Trupp Grundschüler hatte platt fahren wollen.
»Und warum«, konterte die Schülerlotsin, »haben Sie die Kinder dann ,kleine Scheißer‘ genannt und gebrüllt, Sie würden sie niedermähen?«
Kirk hatte Kinder nie gemocht. Vermutlich lag das an den vielen Grausamkeiten, die wir von anderen Kindern hatten erdulden müssen, als wir selbst noch klein waren. Und es ist nicht zu leugnen – selbst als Erwachsene haben wir es oft mit ungezogenen Kindern zu tun. Sie schreien vor Entsetzen. Sie rennen vor uns weg. Die schlimmsten schleichen sich an und fingern an mir herum, als wäre ich ein Halloweenkostüm. Manche treten. Andere schlagen. Einige beißen sogar zu wie Hunde, graben ihre Schneidezähne in meinen Arm. Irgendein primitiver Impuls lässt sie offenbar glauben, Kirk wäre von einem Tumor befallen, den man abbeißen müsste. Vielleicht sind aber auch nur ihre Eltern schlecht erzogen. Literweise Cola schlürfendeIdioten in Flip-Flops, die sich nicht die Mühe machen, ihren Kindern Manieren beizubringen.
Kirk hasste Kinder, ich deren Eltern. Sie waren die Idioten, von denen die Kinder lernten, sich zu benehmen, wie sie wollten, nicht, wie sie sollten. Diese Monster hatten kein Gewissen und kannten keine Grenzen. Gute Manieren existierten für sie genauso wenig wie Pflichtbewusstsein oder ein Verständnis dafür, dass sie Teil eines größeren gesellschaftlichen Gefüges waren. Diese verwöhnten Schwachköpfe kauften Millionen-Dollar-Häuser – bei einem Jahreseinkommen von Dreißigtausend. Dieselben Leute leasten sich einen Porsche, obwohl sie eigentlich einen Camry fahren sollten. Sie waren die Zecken, die sich am Blut des amerikanischen Traums vollsaugten. Und ihre Kinder waren noch schlimmer, denn die Eltern wussten es eigentlich besser. Die Kinder würden nur noch Parasiten sein.
So wie ich.
»Wayne.« Kirk hatte am Radio herumgedreht. Er sah mich an – fixierte mich regelrecht. Für diesen Gesichtsausdruck wollte ich ihn ohrfeigen.
»Lass bloß den Fuß vom Gaspedal«, sagte ich. »Bitte. Wir können es uns nicht leisten, meinen Führerschein auch noch zu verlieren.«
Einen Moment lang starrte er mich noch an, dann beschäftigte er sich wieder mit dem Radio.
Eigentlich sollten wir unsere Krankenakten nicht lesen. Aber mit siebzehn hatte Kirk unsere Unterlagen studiert, während wir wieder einmal darauf gewartet hatten, dass die Krankenhausärzte uns betasteten, abklopften, durchleuchteten, Magnetfeldern aussetzten, uns röntgten und mit sämtlichen weiteren Schrecken quälten, die die medizinische Wissenschaft für siamesische Zwillinge bereithielt.
»Du bist ein Parasit«, hatte er zu mir gesagt, doch ich las bereits über seine Schulter hinweg mit.
Durch intensive Tests sind Dr. Shelby und Lovett zu dem Schluss gelangt, dass aufgrund des Fehlens eines voll ausgebildeten Herzens und ebensolcher Darmfunktionin Kombination mit der eindeutigen Unfähigkeit von Zwilling Nummer zwei, ohne Zwilling Nummer eins zu überleben, Wayne Edgerton im Folgenden als »parasitärer Zwilling« bezeichnet werden sollte.
Das war 1990. Damals gab es keine Computer, mit denen man in der Abgeschiedenheit der eigenen vier Wände bei WebMD hätte nachschauen können, was man Schlimmes hatte. Stattdessen gingen wir in die Universitätsbibliothek und suchten uns aus dem Kartenkatalog die Standnummer des Buches mit dem Titel
Die psychologische Dysnomie des parasitären Zwillings
heraus, verfasst von einem Mann mit dem idiotischen Namen Bonneau F. von Heffinger.
Mit zitternden Händen schlugen wir die erste Seite auf.
Dysnomie (aus dem Griechischen) steht für »Gesetzlosigkeit«.
»Klingt eher nach mir als nach dir«, hatte Kirk gesagt. Das war die großzügigste Bemerkung, die je aus seinem Mund gekommen war, und sie ist es bis heute geblieben.
Der parasitäre Zwilling,
schrieb der hochgeschätzte Dr. von Heffinger,
auch als ungleicher siamesischer Zwilling bezeichnet, entsteht, wenn sich Zwillinge im Uterus nicht vollständig trennen. Wie oft in der Natur greift hier die darwinsche Dichotomie. Der eine muss sich im Kampf um die hormonelle Ausstattung wie auch um die begrenzte Versorgung im Mutterleib gegen den anderen
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